Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
Vom Netzwerk:
kam, fiel das Licht auf ihr Gesicht. Ihre Wangen waren bleich, und ihre Augen blickten leer und suchend um sich, als ob er gar nicht da wäre.
    Paul stand auf. Um einen guten Eindruck zu machen, schob sich Agatha das zerzauste Haar aus der Stirn und strich ihren Hausmantel glatt.
    »Da bist du ja endlich, Frederic.«
    »Nein, Agatha. Ich bin es … Paul.«
    »Ich muss mit dir reden, Frederic … muss dir alles erklären, damit du mich verstehst …«
    »Agatha, Sie schlafen ja noch. Erlauben Sie, dass ich …«
    »… ich kann dir alles erklären. Wenn du alles weißt, wirst du mich auch wieder lieben …«

6

    Sonntag, 26. August 1838
    Im Haus war es still und friedlich. Alle waren in der Messe, und John arbeitete in der Bibliothek. Seine Reise nach Richmond ließ sich nicht länger aufschieben, doch er hatte nicht das Herz, seiner Frau das zu sagen. Ihr war zwar morgens noch immer übel, aber sein Gefühl sagte ihm, dass sie die Reise eher wegen ihres Vaters nicht antreten wollte. Auf jeden Fall musste er in Kürze aufbrechen, wenn er vor der Geburt des Kindes wieder zurück sein wollte.
    Als sich die Tür öffnete, schaute er auf und war überrascht, Paul zu sehen. Seit ihrem Streit im Stall war sein Bruder nur ein einziges Mal auf Charmantes gewesen, und zwar bei Georges Hochzeit. Er hat die Nase voll von Agatha und bringt sie zurück , dachte John belustigt.
    Mit ernstem Gesicht ließ sich Paul ihm gegenüber auf einem Sessel nieder.
    »Was führt dich ausgerechnet am Sonntagmorgen nach Charmantes?« Er fürchtete, dass er Pauls Problem nicht ohne Frederic lösen konnte.
    »John …«
    Irgendetwas stimmte nicht. Paul war leichenblass und sein Blick unstet und voll Sorge.
    »Was ist geschehen? Du siehst aus, als ob du einem Geist begegnet wärst.«
    »Agatha …«, begann Paul. »Ich bin wegen Agatha hier. Sie ist … mein Gott … sie ist verrückt geworden.«
    »Merkst du das erst jetzt?«, witzelte John.
    »Das ist kein Scherz, John. Seit Vater sie aus dem Haus gewiesen hat, hat sie sich in ihrem Schmerz gesuhlt. Aber seit vergangener Nacht befindet sie sich in einer Art Delirium. Sie hält mich für Vater und sagt nichts Vernünftiges mehr, obwohl sie ständig redet. Sie behauptet Dinge …«
    John runzelte die Brauen. »Was genau?«
    »Sie sagt immer, dass sie unseren Vater lange vor deiner Mutter geliebt hat, und sie beschimpft Elizabeth, dass sie ihr den Mann gestohlen hätte.«
    John seufzte. »Das kennen wir doch längst. Warum heult sie immer noch? Sie hat doch Vater zu ihrer Sichtweise bekehrt, und du hast deinen Teil bekommen. Was will sie denn noch?«
    »Sie will Vater! Ich sage dir, sie ist wahnsinnig. Sie verwechselt deine Mutter mit Colette und behauptet Dinge … keine Ahnung, ob die stimmen, aber …«
    »Was genau hat sie gesagt, Paul?«
    Paul suchte Johns Blick. »Es ging um Colette.«
    »Und?«
    »Agatha hat behauptet, dass Robert und sie dafür gesorgt hätten, dass Colette … dass sie verschwand.«
    Verblüfft lehnte sich John zurück. » Verschwand? «
    »John.« Paul mochte es kaum aussprechen. »Im letzten Jahr, als Colette so krank war … Agatha hat sich persönlich um sie gekümmert … und dafür gesorgt, dass sie sich schlecht fühlte. Sie hat erreicht, dass Robert Blackford Colette behandelte. Zuerst ein Mal in der Woche, später zwei Mal und zuletzt jeden Tag. Zu Anfang wollte Colette seine Besuche verhindern und klagte, dass sie sich anschließend jedes Mal schlechter fühle. Als Robert daraufhin das Mittel änderte – jedenfalls behauptete er das –, ging es ihr vorübergehend besser. Nach Weihnachten war ich länger verreist und dachte, sie bei meiner Rückkehr gesund und wohlauf vorzufinden. Aber Charmaine sagte mir, dass es ständig bergab gegangen sei. Blackford schob es auf eine schwache Lunge, aber inzwischen … inzwischen bin ich ratlos. Nach Colettes Tod konnte Agatha Vaters Frau werden. Aber …« Er konnte die Worte kaum über die Lippen bringen. »Aber Pierre stand als dein Nacherbe in Vaters Testament. Als Agatha das hörte, war sie außer sich und womöglich wütend …«
    Wie Licht in ein dunkles Zimmer fällt, so war John der Zusammenhang mit einem Mal klar, und schon fügte sich eines zum anderen: Agathas ständige Bemühungen, ihn von seinem Vater zu entfremden, ihre triumphierende Miene, als er selbst seinen Namen aus Frederics Testament strich, Blackfords überstürzte Abreise, der tobende Phantom, der aus dem Stall ausbricht, Pierre, der unbemerkt zum

Weitere Kostenlose Bücher