Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
an seiner Hemdbrust und wimmerte mitleiderregend. Blicklos starrte er vor sich hin, strich seiner Tochter übers Haar und tätschelte ihr den Rücken, bis die Tränen langsam versiegten.
Charmaine musste die Augen schließen, so sehr schmerzte ihr Herz. Ihr war, als ob Colette und Pierre ein zweites Mal gestorben seien. Vergiftet! Wieso hatte sie das nicht erkannt? Kein Wunder, dass Colette sich so elend gefühlt hatte! Die Anzeichen waren alle da. Und Pierre! Sein Tod war kein Unglück gewesen! Sie stöhnte. Ich habe ihn nicht gut genug beschützt! Guter Gott, ich habe ihn nicht beschützt! Warum tötete man einen so unschuldigen bildhübschen Jungen? Durch Colettes Tod konnte Agatha viel gewinnen, aber Pierre … warum?
»Warum nur, Papa?« Yvettes Stimme zitterte. »Warum haben sie Mama und Pierre getötet?«
»Weil sie schlecht und böse sind«, antwortete Frederic mit harter Stimme. Er hob Jeannettes Gesicht an und wischte ihr mit sanfter Hand die Tränen von den Wangen. »Besser?«, fragte er leise.
Die Kleine seufzte. »Ich glaube schon.«
»Gut. Ich muss jetzt mit Father Benito sprechen. Ist es in Ordnung, wenn ich dich bei Charmaine und Nana Rose lasse?« Als das Mädchen nickte, küsste er sie auf die Stirn. Dann stand er auf und setzte Jeannette auf seinen Sessel. Er tätschelte Yvettes Kopf. »Sie werden ihre gerechte Strafe bekommen, mein Kind. Das verspreche ich dir.«
Betrübt lächelte Yvette zu ihrem Vater auf. »Gib auf dich acht, Papa.«
»Ganz sicher, Yvette.«
Er schaute zu Rose und Mercedes hinüber, sah, wie sie traurig den Kopf schüttelten, und ging dann zu Charmaine, die an der Tür stand. »Es dauert nicht lange.« Mit diesen Worten drückte er ihre Schulter und war fort.
Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz …
John und Paul galoppierten auf direktem Weg in die Stadt. Westphals Haus lag genau gegenüber der Bank. Sie sprangen vom Pferd und klopften energisch an die Tür. Trotzdem dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis geöffnet wurde.
»Was ist los?«, fragte Stephen erstaunt, als John und Paul zusammen vor seiner Tür standen.
»Holen Sie Ihre Schlüssel und öffnen Sie die Bank«, forderte John.
»Die Bank öffnen? Aber heute ist Sonntag! Außerdem esse ich gerade.«
»Öffnen Sie die Bank!«
Stephen sah Paul an.
»Tun Sie, was er sagt, Stephen.«
Sie warteten auf der Schwelle, während Westphal seine Schlüssel holte. Dann gingen sie zur Bank hinüber.
In der Eile hatte Stephen Mühe mit dem Schloss. »Was ist denn so dringend?«
»Ich möchte Blackfords Konto sehen«, antwortete John.
Stephen war wütend. »Das kann ich unmöglich machen! Das ist ein Eingriff in die Privatsphäre.«
»Blackford ist ein Mörder«, entgegnete John. »Er hat die Insel im April auf Nimmerwiedersehen verlassen. Vermutlich hat er sein gesamtes Geld mitgenommen. Ich will wissen, wie viel es war und auf welche Bank es transferiert wurde.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«, widersprach Westphal.
John sah ihn einige Augenblicke lang nur an. »Was ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit. Benito St. Giovanni hat gestanden. Langsam verliere ich die Geduld. Zeigen Sie mir jetzt die Dokumente, oder muss ich sie mir selbst holen?«
Hilflos sah Stephen zu Paul hinüber. »Es stimmt, Stephen. Wir müssen herausfinden, wohin Blackford verschwunden ist.«
Kopfschüttelnd betrat Westphal sein Büro. Ein paar Augenblicke später hatte er die fraglichen Papiere gefunden und reichte sie John, der sich sofort an den Schreibtisch setzte und die Dokumente studierte.
Nach ein paar Minuten sah er zu Paul auf. »Agatha hat ihren Bruder reichlich für seine Dienste entlohnt. Seit April ’36 hat er mehrere große Einzahlungen getätigt. Ich würde sagen, dass damals die Vergiftung begann. Aber die größte Summe gab es eine Woche nach Pierres Tod. Damals hat sie ihm Thomas Wards gesamten Besitz überschrieben.«
John rieb sich die Stirn und wandte sich dann an Westphal. »Hier: Ihre Unterschrift belegt, dass Blackford sein gesamtes Geld als Verrechnungsscheck, ausgestellt auf die Bank of Richmond, erhalten hat. Ich bezweifle allerdings, dass er in Virginia bleibt. Hat er Ihnen das eigentliche Ziel seiner Reise verraten?«
Westphal zuckte die Schultern. »Nein. Er hat lediglich angedeutet, dass er sich zur Ruhe setzen will. Aber vielleicht hilft Ihnen ja dies hier weiter.«
John war überrascht, als Westphal ihm einen Brief von Benito Giovanni in die Hand drückte. »Benito hat mir diesen Brief zu
Weitere Kostenlose Bücher