Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Dabei wäre sie um ein Haar verblutet. Thomas wurde vom Dienst befreit, und als er sie fast einen Monat lang aufopfernd pflegte, wuchs Agatha dieser mitfühlende Mensch ganz unvorhergesehen ans Herz. Während sie sich langsam erholte, fand sie sich täglich mehr mit einem Leben ohne Frederic ab. So wie Paul schien auch er ihr auf ewig verloren.
»Wir werden wieder Kinder bekommen«, hatte Thomas gesagt und in ihren Armen Zuflucht gesucht. Aber die Monate wurden zu Jahren, und Agatha wurde nicht wieder schwanger. Es blieb ihr Geheimnis, dass sie sich mit dem spitzen Zweig unheilbar verletzt hatte, mit dem sie das Leben ihres ungeborenen Kindes auslöschte.
»Ich sorge mich um dich, meine Liebste«, sagte Thomas während der nächsten Jahre öfter. »Mein Vater will, dass ein Enkel seinen Namen trägt. Er droht, den Sohn meiner Schwester als Erben einzusetzen, sollte ich ohne männliche Nachkommen sterben. Um dir diese Versorgung zu sichern, sollten wir vielleicht doch einen Arzt aufsuchen und sehen, was man tun kann …«
Agatha erschrak. Aus Angst, dass man den Grund für ihre Unfruchtbarkeit entdecken könnte, vertröstete sie ihren Mann. Zuvor wolle sie die Sache mit ihrem Bruder besprechen. »Bei deinem nächsten Einsatz fahre ich nach Charmantes. Ich bin sicher, dass Robert Rat weiß.«
Das war im Sommer 1813. Paul war gerade fünf Jahre alt geworden und schon ein kleiner Mann. Was Agathas Empfang auf Charmantes betraf, so war ihre Sorge völlig unbegründet. Frederic hieß sie in seinem Haus willkommen und bestand darauf, dass sie so lange blieb, wie sie das wünschte.
Er sah auch noch so beeindruckend gut aus wie früher, sodass sie große Mühe hatte, ihn auf Abstand zu halten und seiner Anziehungskraft zu widerstehen. Eigentlich hätte sie Frederic hassen müssen, da er ihr Paul gestohlen hatte und sie niemals mehr Mutterfreuden erleben konnte. Doch wenn sie eines Tages nicht mehr war, würden sich nur Paul und seine möglichen Kinder an sie erinnern. So wurde Paul zu ihrer Obsession.
Außer Paul gab es noch Robert, der in einem fort jammerte. Da er seine Schwester unverändert aufdringlich verehrte, erlaubte sie ihm hin und wieder, sie zu lieben. Er vergalt ihr diese Gunst, indem er Johns Abstammung anzweifelte und Paul als Frederics Fleisch und Blut nach Kräften in den Vordergrund rückte. Frederic fiel lange Zeit auf die Lüge herein und betete Paul an, während er für John nur Hohn und Spott übrighatte. Aber trotzdem war Agatha nicht zufrieden. Solange Paul nicht zum rechtmäßigen Erben des Familienvermögens erklärt war, würde sie keine Ruhe geben.
Als sie Charmantes verließ, nahm sie drei Dinge mit. Erstens das Wissen: Seiner Vergangenheit konnte keiner entfliehen. Wenn sie das nächste Mal nach Charmantes kam, würde sie Frederic verführen. Zweitens die Erkenntnis: Thomas zu verlassen kam nicht infrage. Sarah Coleburn hatte recht: Eines Tages war ihr Mann reich, vorausgesetzt, er überlebte seinen Vater, und wenn sie an seiner Seite blieb, würde sie daran teilhaben. Frederic war zwar für immer in ihrem Herzen, aber sie hatte auf bittere Art gelernt, nicht auf diese Liebe zu vertrauen. Frederic hatte sie benutzt und fortgejagt, als sie am verwundbarsten gewesen war. Verliebt und schwanger … und allein. Selbst wenn sie morgen Witwe wurde, konnte sie nicht unbedingt auf einen weiteren Antrag hoffen. Schließlich hatte ihm nur sein schlechtes Gewissen den vorigen diktiert. Drittens die Gewissheit: Sie wollte nie mehr im Leben mittellos dastehen. Die Zeit war auf ihrer Seite. Da Elizabeth tot und John von Frederic schlecht gelitten war, konnte sie in Ruhe abwarten, bis ihre Zeit gekommen war.
Vom nächsten Sommer an lebte Agatha praktisch zwei Leben: das eine als Frau eines angesehenen britischen Offiziers in England, und ein anderes als verführerische Geliebte, sobald ihr Mann britischen Boden verließ. Sie fuhr so oft wie möglich nach Charmantes, und Frederic und sie liebten einander wieder so innig wie früher. Von Mal zu Mal fiel es Agatha schwerer, ihn zu verlassen. Der Zustand des Commodore verschlechterte sich allmählich, und irgendwann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Thomas seinen Vater beerben würde. Wenn er selbst zu Tode kam, war sie endlich eine reiche und unabhängige Frau, was sie nach all dem Leid und der großen Opfer auch verdient hatte. So ging Jahr um Jahr ins Land, bis dieses Arrangement eines Tages jäh und unerwartet beendet wurde.
Im Frühjahr 1829
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