Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
trotzdem nicht sagen dürfen.«
»Warum ist sie aus deinem Bett zu mir gekommen, wenn sie mich nicht geliebt hat?« Als Frederic schwieg, fuhr er fort: »Im Unterschied zu dir musste ich sie nicht zwingen. Sie kam ganz freiwillig.«
John weidete sich daran, dass Frederic den Kopf sinken ließ. »Nun, Vater«, begann er mit schiefem Grinsen, »warst du etwa müde, sie ständig zu zwingen, oder …«
»Du bist für die Wahrheit noch nicht reif«, schnitt ihm sein Vater das Wort ab.
»Versuche es doch.«
Abschätzend sah Frederic seinen Sohn an. »Colette ist zu dir gekommen, weil ich sie fünf lange Jahre nicht geliebt habe. Sie war einsam …«
John prustete los, aber die ernste Miene seines Vaters ließ ihn innehalten. »Aber ich habe Colette geliebt!«, stieß er hervor.
»In diesem Punkt unterscheiden wir uns, mein Sohn, denn ich liebe sie noch immer.«
»Wie rührend!«
»Aber wahr.« Frederic wandte sich wieder dem Ozean zu. »Ich wurde auch verletzt.«
»Aber du hast uns doch alle gestraft – nicht ich!«
»Das ist richtig, aber aus anderen Gründen, als du meinst.«
»Warum also?«
Frederic atmete tief durch. »Von dem Moment an, als ich Colette zum ersten Mal sah, war ich von ihrer Ähnlichkeit mit deiner Mutter fasziniert. Es war jedoch weniger ihr Aussehen, als die Art, wie sie ging und sich bewegte, ihr Selbstbewusstsein, ihr Lächeln und das übermütige Funkeln ihrer Augen. Auch kleine Dinge wie eine Handbewegung oder ein kaum wahrnehmbares Lispeln. Anfangs irritierten mich diese Ähnlichkeiten, doch je mehr ich sie ignorieren wollte, desto mehr zogen sie mich an.«
»Weil Colette dich an meine Mutter erinnert hat, hattest du das Recht, ihr Gewalt anzutun?«
»Aber nein«, antwortete Frederic leise.
»Warum hast du es dann getan? Warum hast du sie mir gestohlen? Hasst du mich so sehr?«
»Ich hasse dich überhaupt nicht, John!«
»Ach nein?« Angesichts der Ungeheuerlichkeiten, unter denen er ein Leben lang gelitten hatte, schrie John die Frage förmlich heraus. »Warst du so wütend, weil ich dir Elizabeth genommen habe, dass du mir dafür Colette rauben musstest? Ich habe sie geliebt. Hast du das denn nicht gesehen?«
Frederic stand wie betäubt da, als er das Ausmaß dieser Qual begriff. Guter Gott, glaubt John das wirklich?
»Wie konntest du mir das antun?«, fragte John.
»Ich habe es doch nicht dir getan, John«, wandte Frederic ein. »Auch wenn du mir nicht glaubst, aber ich bedauere es ehrlich.« Einen Moment lang hielt er inne und wagte nicht, mehr zu sagen. John starrte ihn ungläubig an, und ihm wurde immer elender zumute. Es ging jetzt um alles oder nichts. »Ich habe Colette falsch eingeschätzt«, begann Frederic zögernd. Seine Brust schmerzte. »Ich war überzeugt, dass sie dich nur zum Narren hält … mich zum Narren hält. Ich habe einige Gespräche mit ihrer Freundin mitbekommen und in den Augen ihrer Mutter die Angst vor der Armut gelesen. Ich nahm also an, dass Colette dich nicht liebte und nur nach einem reichen Ehemann suchte. In dieser Nacht wollte ich ihr nur ein wenig auf den Zahn fühlen, ihr klarmachen, dass sie mit dem Feuer spielt. Aber das Feuer ist außer Kontrolle geraten. Als ich sie küsste, schmolzen die Jahre dahin, und mir war, als ob ich deine Mutter im Arm hielte. Das ist keine Entschuldigung, ich weiß, aber die Sehnsucht war einfach stärker als ich.«
Frederic musste tief Luft holen, so sehr schmerzte sein Herz. »Sie hat sich nicht gewehrt. Später habe ich überlegt, dass sie womöglich keinen Mut dazu hatte. Doch als es geschah, war ich sicher, dass ich mich nicht getäuscht und sie schon andere Liebhaber vor mir hatte. Ich konnte nicht mehr aufhören … und ich wollte es auch gar nicht. Auf jeden Fall habe ich sie nicht verletzt, John.« Er schluckte. »Als es vorbei war, erkannte ich meinen Fehler. Colette war rein und unberührt … und ich schämte mich. Aber gleichzeitig war ich über meinen Irrtum glücklich. Den nächsten Tag über konnte ich nicht aufhören, an sie zu denken, und noch in der Nacht ging ich zu ihr und machte ihr einen Antrag. Ich versprach, ihre Familie zu unterstützen. Ja, ich wollte die Dinge in Ordnung bringen, aber mehr als alles andere wollte ich, dass sie meine Frau wird. Ich redete mir ein, dass das Schicksal es so bestimmt hätte. Sie gehörte zu mir und nicht zu dir. Du warst noch jung, viel zu jung, um schon zu heiraten. Und du warst auch nicht in sie verliebt, bestenfalls hatte sie dir den Kopf
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