Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
gesehen?«
»Keine Ahnung. Ich habe seitdem nicht mehr nachgefragt.« Als John die Stirn runzelte, fügte er hinzu: »Möglich ist es immerhin.«
»Verbreiten Sie das Gerücht, dass ich eine Belohnung für alle brauchbaren Hinweise zahle. Wenn Sie den Mann ausfindig gemacht haben, dann entlohnen Sie ihn so üppig, dass er gar nicht anders kann, als täglich zur Arbeit zu erscheinen.«
»Und warum das alles?«, fragte Stuart verwundert.
»Wenn er regelmäßig kommt, bieten Sie ihm irgendwann eine besser bezahlte Arbeit auf einem unserer Schiffe an, das nach Charmantes fährt. Sobald er sich an Bord befindet, senden Sie mir eine Nachricht.«
»Aber woher weiß ich, wo ich Sie erreiche?«
»Am besten fügen Sie die Nachricht den Rechnungen bei. Falls ich nicht auf Charmantes bin, weiß Paul, was zu tun ist. Ich habe ihm alles erklärt.« Er zog zwei Umschläge aus seiner Tasche. »Stellen Sie sicher, dass diese Briefe umgehend mit der Destiny nach Charmantes gelangen.«
»Aber die Destiny fährt von hier aus mit einer Tabakladung nach Liverpool!«
»Laden Sie nur die Hälfte«, wies John ihn an. »Wenn die Raven nächste Woche aus New York nach Richmond zurückkommt, kann sie für die Destiny einspringen. Und was die Destiny angeht, so kann Paul die halbe Ladung einfach mit Zucker auffüllen.« Er übergab Stuart die Umschläge. »Es ist äußerst wichtig, dass diese Briefe umgehend nach Charmantes gelangen.«
John wusste nicht, dass Father Michael Andrews früh am Morgen an Bord der Raven gegangen war. Frederic hatte ihm geraten, unter Deck zu bleiben, bis sie den Hafen hinter sich hatten. Als der Priester irgendwann an Deck erschien, war John verärgert. »Was soll das?« Er sah von einem zum anderen. »Habe ich jetzt zwei Väter, die auf mich aufpassen?«
»Sie können toben, so viel Sie wollen. Das beeindruckt mich nicht. Ich habe meinen Auftrag von höherer Stelle.«
»Hoffentlich können Sie auch auf Wasser wandeln, Michael. Eine fromme Bemerkung, und ich werfe Sie über Bord.«
Die Nachricht von Agathas Tod erreichte Paul, als er früh am Morgen in die Stadt kam. Keine Stunde später ging er bereits auf Espoir an Land. Man hatte die Leiche so belassen, wie man sie am Strand gefunden hatte, und nur eine Decke über sie gebreitet. Mit einer Mischung aus Verachtung, Hass und Trauer sah Paul auf den Körper hinunter. Schweren Herzens gab er schließlich seinen Männern den Auftrag, einen Sarg für Agathas Beerdigung zu zimmern.
In dieser Nacht saß er einsam und allein in seinem großen Haus, das seinen geschäftlichen Erfolg repräsentierte. In den letzten vier Monaten hatten bereits drei Handelssegler die Insel verlassen, deren Fracht ihm eine Menge Geld einbrachte. Dennoch war er bei Weitem nicht so zufrieden wie damals, als er sich noch für seinen Vater abgeplagt hatte. Als er zu Bett ging, hallte sein Schritt durch das leere Haus, und er konnte lange keinen Schlaf finden.
Michael klopfte an Johns Kabine, bevor er die Luft anhielt und eintrat. John saß an einem kleinen Tischchen. Stirnrunzelnd sah er auf. »Keine Angst, ich will Ihnen keine Predigt halten, aber ich möchte gern über Charmaine reden.«
John lehnte sich bequem zurück und legte seine Füße auf das Tischchen. Dann lud er Michael ein, auf dem schmalen Bett Platz zu nehmen. »Ich liebe Charmaine über alles«, erklärte er unvermittelt und lächelte.
Michael erwiderte sein Lächeln. »Wie ist es denn überhaupt dazu gekommen?«
»Du lieber Himmel, Michael! Woher soll ich das wissen! Als ich nach Colettes Tod nach Charmantes kam, war Charmaine die Gouvernante der Kinder. Anfangs mochte ich sie nicht, doch wie ich heute weiß, habe ich sie damals falsch eingeschätzt …« Ich habe Colette falsch eingeschätzt. Er runzelte die Stirn. »Da ich damals möglichst viel Zeit mit Pierre verbringen wollte, haben wir uns ständig gesehen. Charmaine war wie eine Mutter zu ihm. Als er starb, war sie genauso verzweifelt wie ich. Und doch hat sie mich getröstet. Heute weiß ich, dass ich sie schon bei meiner Abreise im Herbst geliebt habe. Aber nach den schrecklichen Ereignissen hatte ich keinen Platz für solche Gefühle. Das änderte sich erst, als ich Charmaine im April wiedersah.« Er grinste. »Es war ein Geschenk des Himmels, als ich merkte, dass sie genau wie ich empfand.«
Nachdenklich sah er vor sich hin. »Falls es Ihren Gott tatsächlich gibt, so hat er das bestens geplant. Ich sage Ihnen eines, Michael, und das ist ein
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