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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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und zutiefst bewegt. Unwillkürlich musste er an Colette denken … und in diesem Augenblick war ihm alles klar. Kristallklar. »John ist inzwischen verheiratet«, sagte er leise, »und ein Sohn oder eine Tochter ist unterwegs.«
    Lily schwieg einen langen Augenblick. Ihre Trauer war nicht zu übersehen. »Dann bete ich, dass er glücklich wird«, flüsterte sie schließlich. »Er verdient es. Aber zuvor bete ich um seine Genesung.«
    Frederic nickte. Dann stand er auf und zog sich zurück, um zu schlafen.
    Der zweite Tag verlief so ruhig wie der erste. John war noch immer bewusstlos und stöhnte nur hin und wieder. Ab und zu flatterten seine Lider, und er murmelte unzusammenhängende Wörter, bevor er die Augen wieder schloss.
    Am Abend zeigten sich erste Anzeichen des Fiebers. John erschauerte trotz der Decken, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Lily wechselte unablässig die Kompressen, aber trotzdem stieg das Fieber gegen Morgen heftig an. John zitterte so sehr, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Er wehrte die Kompressen ab und zerrte die Decken höher hinauf, um sich zu wärmen, doch Lily entwand sie ihm immer wieder. Frederic und Michael bereiteten das Eisbad vor. Dann zogen sie John aus und tauchten ihn ins eiskalte Wasser. Er schrie vor Schmerz und wehrte sich gegen die Arme, die ihn festhielten. Aber das Bad zeigte Wirkung. Sobald sie ihn ins Bett legten, schlief er friedvoll ein. Doch einige Stunden später stieg das Fieber erneut. John halluzinierte, stieß wirre Sätze aus, durchlebte den Kampf gegen Blackford ein weiteres Mal und rief laut nach Charmaine. Frederic und Michael badeten ihn ein zweites Mal, und wieder gelang es ihnen, das Fieber zu senken.
    Samstag, 8. Dezember 1838
    Frederic fuhr im Sessel auf, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Jalousie drangen und ihn weckten. Er starrte auf John hinunter, der leblos im Bett lag. Hastig sprang er auf, ergriff seine Hand … und atmete erleichtert auf. Johns Haut war kühl, aber nicht kalt, wie er zuerst gefürchtet hatte. Trotzdem reagierte er weder auf Stimmen noch auf Berührungen. Sein Gesicht war bleich, und sein Atem ging flach.
    Lily rannte ein zweites Mal zu Dr. Hastings. Eine Stunde später untersuchte dieser den Patienten und verließ danach kopfschüttelnd das Krankenzimmer. »Es tut mir leid … ich wünschte, ich könnte mehr tun.«
    Michael sah den Schmerz in Frederics Augen und empfand großes Mitleid mit ihm. Ein solch tapferer Versuch … und nun das. Er sah auf das geisterblasse Gesicht seines Freundes hinunter. So blass, wie er es oft bei der Letzten Ölung sah. Das Gesicht eines Toten. Er dachte an seine Tochter, die nicht da war, um sich von ihrem geliebten Mann zu verabschieden.
    Tränen stiegen ihm in die Augen, während er leise ein Gebet für einen Sterbenden murmelte. » St. Jude Thaddeus, du Helfer der Hilflosen, bitte für uns … «
    Spät in der Nacht
    Mit gesenktem Kopf saß Frederic neben dem leblosen Körper seines Sohnes. Er hob Johns Hand an seine Lippen und murmelte ein inbrünstiges Gebet. »Gnädiger Gott, ich bitte dich. Nimm ihn mir nicht … nicht gerade jetzt!« Er presste die Finger an seinen Mund, als ob er ihnen etwas von seiner Lebenskraft einhauchen könne. »Ich habe Charmaine versprochen, dich nach Hause zu bringen. Aber doch nicht so. Gnädiger Gott, doch nicht so!« Er barg seinen Kopf in den Laken und brach in Tränen aus.
    John blickte auf die seltsame Szene hinunter. Sein Vater betete über seinem Körper, aber die Not des Mannes spürte er nicht. Er empfand nur eine gewisse Leichtigkeit. Träume ich? Irgendjemand rief seinen Namen, aber der Ruf kam nicht von unten, sondern von oben, irgendwo hinter ihm. Als er sich langsam umdrehte, öffnete sich die Zimmerdecke. Mit einem Mal war alles in helles Licht getaucht. Aus der Ferne kam ihm eine Frau entgegen, die er vor der Helligkeit nur als Silhouette wahrnahm. Er beschattete seine Augen, um sie besser sehen zu können. Wieder rief sie seinen Namen, aber die Stimme war ihm fremd. Ihr Haar war von einem goldenen Braun, und ihre Augen leuchteten wie Honig. Sie war wunderschön, und irgendetwas an ihrem Gang erinnerte ihn an Colette. Mit einem Mal wusste er, dass es seine Mutter war.
    »John«, hauchte die Stimme, »ich habe mich so danach gesehnt, dich endlich zu sehen.«
    Die Entfernung zwischen ihnen war unendlich, und doch schwoll sein Herz vor Glück, als ob sie ihm ganz nahe wäre. Er sah ein letztes Mal auf seinen Vater hinunter, bevor er

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