Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
klammerte.
Rose und Loretta räumten auf, entfernten die schmutzige Wäsche und scheuchten die ersten Besucher noch einmal fort. »Charmaine braucht einen Moment Ruhe, um Zwiesprache mit ihrem Kindchen zu halten.« Die ungewohnte Geschäftigkeit hatte auch die Zwillinge geweckt, die das neueste Familienmitglied unbedingt bewundern wollten.
Irgendwann wurde Marie unruhig und stieß einen Schrei aus, der schnell immer lauter wurde. Rose ließ fallen, was sie gerade in der Hand hatte, und eilte zum Bett. »Sie möchte trinken«, sagte sie leise und zeigte Charmaine, wie man ein Baby stillte. Die kleinen Lippen suchten ein bisschen, bis sie schließlich die Brustwarze fanden. Das Saugen war ein eigenartiges Gefühl … und wunderbar zugleich und erfüllte beide mit tiefer Zufriedenheit.
Als Marie einschlief, fand Charmaine endlich auch ein wenig Zeit für sich. Man schüttelte die Kissen auf, damit sie sich bequem zurücklehnen konnte. Als Loretta die kleine Marie in die Wiege legen wollte, drückte Charmaine sie an sich. »Bitte nicht, Mrs Harrington, ich möchte sie noch ein bisschen halten.« Loretta nickte verständnisvoll, und Rose ließ endlich die Familie zum ersten Besuch herein.
Yvette und Jeannette tanzten vor Entzücken, als sie ihre kleine Nichte betrachteten.
»Warten Sie nur, bis Johnny nach Hause kommt!«, rief Yvette.
»Er wird sehr stolz sein«, ergänzte Jeannette.
Paul stand am Fußende und betrachtete das Bild. Charmaine sah hinreißend aus und hörte sich die Kommentare der Zwillinge mit einem gefassten Lächeln an. Wie sehr wünschte er, dass sie sein Kind in den Armen hielt. Er liebte sie, wie ihm plötzlich klar wurde. Falls John nicht mehr nach Hause kam, schwor er hoch und heilig, sich immer um Charmaine zu kümmern … und sie zu heiraten, wenn sie ihn haben wollte.
Sonntag, 16. Dezember 1838
Charmaine hatte einen wunderschönen Geburtstag verlebt. So wunderschön, wie das ohne John möglich war. Im nächsten Jahr würde es sicher anders sein, hatten alle versichert. Jeder hatte sich große Mühe gegeben, um ihr eine Freude zu machen, und ihr ging es fast schon wieder so gut wie damals vor ihrer Schwangerschaft.
Marie schlummerte zufrieden in der Wiege, und Charmaine strich versonnen über die Mähne des kleinen Schaukelpferds. Fast alle Geschenke, die sie erhalten hatte, waren eigentlich Geschenke für Marie, aber das störte sie nicht. Im Gegenteil. Sie freute sich sehr über die hübschen Kleidchen und die Strümpfchen. Doch wohin damit? Da Johns Kommode sehr viel geräumiger war als ihr Frisiertisch, machte sie sich daran, seine Kleidungsstücke neu zu ordnen, um Platz für Maries Sachen zu schaffen.
Sie war gerade bei der zweiten Schublade angelangt, als sie ihn fand … zwischen zwei Hemden, sorgfältig gefaltet und sichtlich mitgenommen. Als ob sie sich verbrannt hätte, ließ sie Colettes Liebesbrief fallen. Ihre zitternden Finger flogen an ihre Lippen, während die Blätter zu Boden flatterten.
Aber sie fasste sich rasch. Sie konnte nicht wissen, ob es ein Liebesbrief war. Schließlich hatte sie vor anderthalb Jahren ja nur ein kurzes Stück davon gelesen.
Plötzlich fielen die Monate von ihr ab, und sie stand wieder in Johns Zimmer, wo sie die Zwillinge vermutete. Der Wind wehte die Blätter zu Boden, sie bückte sich, hob sie auf, ordnete sie und las. Heute schien es ihr unmöglich, dass es derselbe John war, ihr John , der damals ins Zimmer gestürmt war, und dass jemals so viel Zorn und Hass zwischen ihnen gestanden hatte. Und doch würde sie diesen Tag liebend gern erneut erleben, solange John nur wieder bei ihr wäre.
Der Brief lag auf dem Boden … und zog sie wie ein Magnet an. Unsicher wich sie einen Schritt zurück. Sie durfte ihn nicht lesen. Aber vielleicht kommt er nie mehr nach Hause. Er ist dein Mann, und du hast ein Recht, alles zu wissen. Aber wollte sie es überhaupt wissen? Die Sache ist doch kein Geheimnis mehr. John hat dir alles erzählt … Wirklich? War es nicht besser, sich Gewissheit zu verschaffen?
Hastig hob sie die Blätter auf. Die letzte Seite lag obenauf, und sie las die letzten Wörter: Bis wir uns wiedersehen, deine dich liebende Colette . Sie schloss die Augen und schluckte. Warum tat sie sich das an? Rasch faltete sie die Seiten zusammen und ärgerte sich, dass sie überhaupt damit angefangen hatte. John mochte es nicht, wenn sie seine Briefe las, und sie hatte nicht die Absicht, das jetzt zu tun. Außerdem wollte sie Colettes
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