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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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sich ihr zuwandte.

8

    Charmantes
    Unter einem düsteren Himmel zog die Trauerprozession durch den strömenden Regen zum Friedhof. Sie standen um das offene Grab herum, während Father Andrews die letzten Gebete sprach. Schenke ihm die ewige Ruhe, o Herr, und lasse dein Licht über ihm leuchten … Die Männer ließen Johns Sarg in das Loch hinab, und die erste Erde fiel darauf nieder. Charmaine schloss die Augen und weinte an Frederics Brust, dessen starke Arme sie aufrecht hielten. Die Zwillinge schluchzten hemmungslos, gestützt von Paul, dem der Kummer aus den Augen sprach. Zwischen Rose und Mercedes stand George mit gesenktem Kopf, damit niemand seine Tränen sah, aber seine Schultern bebten. Charmaine konnte es nicht länger ertragen. Sie wollte nur noch sterben … O Gott, lass mich ebenfalls sterben!
    Sie erwachte mit klopfendem Herzen, und ihr Körper war von kaltem Schweiß bedeckt. Sie starrte zur Decke empor. Sie hatte geträumt. Alles war nur ein Traum … und doch wusste sie, dass John tot war. Sie befreite sich von der Decke und rollte sich mit ihrem dicken Bauch schwerfällig aus dem Bett. Doch als ihre Füße den Boden berührten, krümmte sie sich vor Schmerz zusammen. Die Wehen hatten begonnen.
    Elizabeth lächelte John entgegen, doch seltsamerweise änderte sich die Entfernung zwischen ihnen nicht. Sein Blick wanderte zu dem Kind, das sie an der Hand führte. Es war Pierre. Der Kleine lächelte ihm zu. John begann zu laufen, und nach einer Ewigkeit erreichte er sie endlich. Er hob Pierre hoch, und der Junge schlang die Ärmchen um seinen Hals. »Papa, wo warst du denn?«
    »Ich bin doch hier, Pierre«, flüsterte John. »Ich bin hier.«
    »Wir haben dich so vermisst! Mama und ich haben dich so vermisst!«
    John drehte sich zu Elizabeth um … doch nun lächelte ihm Colette entgegen. Er streckte die Hand nach ihr aus, und sie kam bereitwillig in seine Arme. »Du hast das Richtige getan, John«, murmelte sie. »Das Unrecht ist gesühnt, und jetzt ist es vorüber.«
    »Colette«, hauchte er. »Colette.« Er presste Mutter und Sohn ganz fest an sich und schwelgte in ihrem zarten Duft. Er hatte endlich Frieden gefunden.
    Charmaine tastete sich in der Dunkelheit zu Pauls Zimmer und musste immer wieder innehalten und sich zusammenkrümmen, wenn eine Wehe sie erfasste. Sie klopfte, und als Paul nicht gleich öffnete, noch etwas lauter.
    Er öffnete verschlafen. »Charmaine? Was ist denn los?«
    Und dann wusste er es. Das Baby kam … einen Monat zu früh. Rasch nahm er Charmaine auf die Arme und trug sie in ihr Zimmer zurück. »Bleiben Sie ganz ruhig. Ich sage Rose und Loretta Bescheid und lasse Dr. Hastings holen.«
    »Paul!«, rief sie ihm nach, als er schon fast an der Tür war. »John ist tot. Guter Gott … ich weiß, dass er tot ist!«
    Sofort kehrte er zu ihr zurück. Während der nächsten Wehe hielt er ihre Hand und wartete, bis der Schmerz abebbte. »Das können Sie gar nicht wissen, Charmaine.«
    »Aber ich habe es geträumt!«, stöhnte sie. »Ich weiß, dass es so ist! Ich habe ihn verloren!«
    »Sie haben Wehen, Charmaine. Ihre Phantasie spielt Ihnen einen Streich. Versuchen Sie lieber, sich zu entspannen. Ich bin gleich wieder da.«
    Voller Sorge ließ er sie allein.
    Keine zwei Stunden später kam Marie Elizabeth Duvoisin auf die Welt. Ein lauter Schrei begrüßte den Arzt, der leider zu spät eingetroffen war. Die Geburt war wider Erwarten leicht verlaufen, und Rose strahlte vor Stolz über ihre Hebammenkünste.
    Dr. Hastings blieb so lange, bis er sicher war, dass Mutter und Kind wohlauf waren. Das Kind war nicht sehr groß, aber gesund, wie er versicherte. Die frühzeitige Geburt war seiner Meinung nach auf Charmaines Ängste zurückzuführen. Er ermahnte sie, in Zukunft mehr an ihr Kind zu denken. Auf dem Weg ins Foyer bemerkte er: »Ich hoffe, Ihr Bruder ist nicht enttäuscht, dass es ein Mädchen ist.«
    »Aber nein, Adam«, murmelte Paul. »John wird ganz bestimmt nicht enttäuscht sein.«
    Charmaine sah zu, wie ihre kleine Tochter eifrig nach ihrer Brustwarze suchte. Sie weinte, und die Tränen benetzten das Köpfchen des Kindes.
    »Marie, meine süße Marie, wenn nur dein Vater schon da wäre …« Sie küsste die daunenweichen rotblonden Härchen. Die Kleine war schon jetzt ein Ebenbild ihres Vaters … bis auf die wunderschönen blauen Augen, die sich dann und wann öffneten. Charmaine hob ihren Finger an die Lippen und küsste die winzige Faust, die sich daran

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