Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
glücklich machen, indem er John nach Hause holt.«
»Aber warum tut sie das, wenn sie doch hinter Paul her ist, wie Sie sagen?«
Felicia lachte. »In Wahrheit will sie John doch gar nicht wiederhaben. Aber Paul soll es glauben.«
»Und warum?«
Die Frage war so dumm, dass Felicia angewidert das Gesicht verzog. »Agatha hat Pierre wegen Frederic Duvoisins Testament beseitigt, und Frederic und John starben vermutlich durch die Hand ihres Bruders. Wenn er jetzt auch noch Paul erledigt, bekommt Charmaine alles, und ihre Tochter wird Alleinerbin.«
»Glauben Sie im Ernst, dass Dr. Blackford Frederic und John umgebracht hat?«
»Das ist doch sonnenklar! Warum haben sie sich denn nie gemeldet?«
Jetzt war Rebecca ernstlich besorgt. Falls Pauls Vater und sein Bruder tatsächlich tot waren, lief er womöglich in dieselbe Falle.
Felicia plapperte unverdrossen weiter. »Ich wäre nicht überrascht, wenn sie sogar mit Blackford gemeinsame Sache machte.«
»Aber, Felicia! Das kann ich nicht glauben!«
»Nicht? Nun gut, ich kenne sie besser. Schließlich weiß jeder, dass ihr Vater ein Mörder ist. Sie hat die Sache von Anfang an raffiniert eingefädelt. Ich möchte sogar wetten, dass ihre Tochter gar keine Duvoisin ist. Sie hat John im April geheiratet … eine Woche nach seiner Ankunft. Für gewöhnlich brauchen Kinder neun Monate, aber ihres kam schon nach acht Monaten auf die Welt.«
In dieser Nacht fand Rebecca keinen Schlaf. Sie glaubte zwar längst nicht alles, was Felicia gesagt hatte, doch sie war in großer Sorge. Als sie im Dunkeln lag und die lähmende Stille sie fast erstickte, wollte sie plötzlich kein artiges Mädchen mehr sein und allem tatenlos zusehen.
Auf Zehenspitzen schlich sie ins Zimmer ihres Bruders, kramte in seinen Schubladen und zog eine Hose und ein Hemd heraus. Da sie nicht schreiben konnte, konnte sie ihm keinen Zettel hinterlassen. Und dass sie ihn weckte, kam nicht infrage. Wenn sie ihm sagen würde, was sie vorhatte, würde er sie einsperren. Sollte er ruhig denken, dass sie sich an einen Ort geflüchtet hatte, wo sie allein sein konnte. Rasch zog sie sich an, fädelte ein Stück Schnur durch die Ösen der Hose und knotete sie in der Taille zusammen. Ihr Haar versteckte sie unter Wades Kappe, die am Haken neben der Tür hing. Dann nahm sie noch das letzte Stück Brot aus dem Küchenschrank und verließ das Cottage.
Wenig später stand sie vor dem majestätisch aufragenden Schiff, das sanft auf den Wellen schaukelte. Vorsichtig spähte sie nach allen Seiten, bevor sie über die Gangway an Bord schlich. Einige Matrosen schliefen an Deck, doch sie drückte sich mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei. In der Dunkelheit war ihr Gesicht ohnehin nicht zu erkennen.
Doch wo sollte sie sich verstecken? Vor drei Jahren hatte sie sich mit Wade zwischen die Fässer im Laderaum gequetscht und fast einen ganzen Tag lang dort ausgehalten. Es war nicht gerade verlockend, das jetzt zu wiederholen, aber es war wichtig, zuerst einmal zu verschwinden, bis sich das Schiff weit draußen auf dem Atlantik befand. Sobald es an Deck ruhiger wurde, konnte sie sich nach oben wagen. Solange sie den Kopf gesenkt hielt, würde niemand Notiz von ihr nehmen. Sie musste den richtigen Moment abwarten, um in Pauls Kabine zu schlüpfen und sich dort zu verstecken. Sie konnte nur hoffen, dass er bis zum Schlafengehen an Deck blieb. Wenn er sie erst spät am Abend entdeckte, waren sie längst auf hoher See, und ihr blieb Zeit genug, um mit ihm zu diskutieren.
Mittwoch, 26. Dezember 1838
Paul verließ das Haus, als die Sterne noch am Himmel standen und der Halbmond die Wiesen vor dem Haus in grelles Licht tauchte. Er dachte an den vergangenen Abend, als er sich von Charmaine verabschiedet hatte.
»Passen Sie gut auf Marie auf, solange ich fort bin.«
»Sie haben keine Ahnung, was mir diese Reise bedeutet, Paul«, flüsterte sie.
»Ich denke schon.«
Als er an Bord der Tempest ging, färbten die ersten Sonnenstrahlen den östlichen Himmel. Im Halbdunkel bereiteten die Matrosen das Ablegemanöver vor. Der Kapitän begrüßte Paul. Conklin wusste, dass dies keine normale Fahrt war, auch wenn der Tabak, der im Laderaum lagerte, in New York versteigert werden sollte. Paul fasste tatkräftig mit an, und keine halbe Stunde später löste sich die Tempest vom Kai. Die Ebbe hatte soeben eingesetzt, und der Wind blähte die Segel. Mühelos glitt die Tempest aus dem Hafen, quer durch die Bucht und weiter auf den offenen Ozean
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