Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
geflickt, um eine ganze Armee damit auszustatten. Wenn sie schon solche Arbeit tun musste, dann lieber für einen Ehemann. Wenn ihre Pflichten erledigt waren, ging sie in der Abenddämmerung vors Haus oder setzte sich im Garten unter eine Palme, um auf Wade zu warten. Dabei träumte sie oft von einem abenteuerlichen Leben. Aber noch häufiger träumte sie von Paul.
Seit der Kapitän der Black Star sie damals als blinde Passagiere zu Paul Duvoisin gebracht hatte, hatte sich ihr Leben grundlegend geändert. Erstens hatte Paul ihrem Bruder keine Vorwürfe gemacht, sondern in Ruhe zugehört, als Wade ihm das elende Leben in den Slums von Richmond schilderte. Er hatte verstanden, dass sie die ungewöhnliche »Pilgerfahrt ins gelobte Land« der Duvoisins unternehmen mussten, und genickt, als Wade erklärte, dass er kräftig und arbeitswillig sei und der Familie Duvoisin Ehre machen wolle, wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu bot.
Als Erstes sorgte Paul für Essen und Kleidung, dann wies er den Geschwistern das leer stehende Cottage zu, wo sie heute noch wohnten, und verschaffte Wade Arbeit. Mit einem Teil des Lohns konnte Wade das Cottage abzahlen. Seine Arbeit erledigte er zur allgemeinen Zufriedenheit, und deshalb wurde er im Lauf der Zeit mit immer verantwortlicheren Arbeiten betraut, auch wenn einige der älteren Kollegen murrten. Inzwischen leitete Wade die Sägemühle weitgehend selbstständig und genoss den Respekt seiner Männer. Ohne Paul wäre er nie so weit gekommen. Seitdem war Paul in Rebeccas Augen ein Held.
Entsprechend begeistert war Rebecca, als sie mit ihrem Bruder zum Ball eingeladen wurde, obwohl Paul bisher so gut wie keine Notiz von ihr genommen hatte. Doch Wade wollte nicht hingehen. Seiner Meinung nach waren sie bei einem solchen Fest fehl am Platz. Rebecca war anderer Meinung und bettelte, bat und flehte wochenlang, bis Wade letztlich nachgab. Trotzdem sollte er recht behalten. Die Enttäuschung traf Rebecca völlig unvorbereitet, als sie den großen Saal betrat und nur Ladys in den prächtigsten Roben erblickte. In ihrem einfachen Kleid würde Paul sie nie bemerken.
Kurz entschlossen fasste sie einen Plan. Sie brauchte nicht mehr als ein paar Minuten, damit Paul auf sie aufmerksam wurde. Sie wusste, dass sie attraktiv war. Die Rufe und das Pfeifen der Matrosen in der Bar waren deutlich genug, wenn sie mit Wade dort vorbeikam. Sie nutzte die Situation in der Küche … und benahm sich wie ein Dummkopf. Sie hatte sich geschworen, immer ehrlich zu sein. Doch was hatte es genützt? In Pauls Augen war sie nur ein plapperndes, unreifes Mädchen, das einer kindischen Schwärmerei erlegen war. Viele Monate machte sie sich wegen ihres Benehmens an diesem Abend Vorwürfe.
Doch die Erkrankung ihres Bruders im vergangenen September änderte alles. Obgleich Paul sie vermutlich immer noch nicht besonders mochte, hatte sie zumindest bewiesen, dass sie kein dummes Kind mehr war. Sie konnte für sich und ihren Bruder eintreten und besaß genau wie ihr Bruder Charakter.
»Rebecca?« Wade unterbrach ihre Nachdenklichkeit. »Wovon träumst du?«
Sie schrak zusammen. »Verzeih. Was hast du gesagt?«
»In den kommenden Wochen muss ich sehr viel arbeiten.«
»Und warum? Kehrt Paul wieder nach Espoir zurück?«
»Hast du überhaupt ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe?« Er runzelte die Stirn. »Paul reist morgen früh an Bord der Tempest nach New York, um seinen Vater und seinen Bruder zu suchen.«
»Und warum?« Unwillkürlich musste sie an Felicias Worte denken: Charmaine wickelt ihn um den kleinen Finger, und er ist so dumm und würde alles für sie tun.
»Er macht sich große Sorgen«, erklärte Wade. »Er hat seit mehr als drei Monaten nichts mehr von ihnen gehört. Er wird zwei Wochen lang fort sein, und in dieser Zeit bin ich ganz allein für die Sägemühle verantwortlich. Nicht einmal George darf mir in meine Entscheidungen hineinreden.«
Wades Arbeit interessierte Rebecca nur am Rande. Dafür war sie zutiefst beunruhigt und aß schweigend, während ihr das Gehörte durch den Kopf ging. Als ihr Bruder aufstand, um Zeitung zu lesen, lief sie nach nebenan, um den Flemmings frohe Weihnachten zu wünschen und ein paar Worte mit Felicia zu wechseln.
»Ich habe gehört, dass Paul nach New York fährt, um seinen Vater und seinen Bruder zu suchen«, sagte sie, als Felicia aus der Hintertür trat.
»Das überrascht mich nicht. Bestimmt hat sich Charmaine bei ihm ausgeweint. Nun will er sie
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