Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
Vom Netzwerk:
und fest. Wahrscheinlich schlief sie während des Tages, wenn er sich nicht dort aufhielt. Er stellte das Tablett auf den Tisch. An diesem Abend musste sie etwas essen. Zur Not wollte er sie zwingen. Seit vier Tagen hatte sie nichts mehr angerührt. Wenn das so weiterging, wurde sie womöglich noch krank.
    Er weckte sie. »Rebecca.«
    Sie rieb sich die Augen und wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand.
    »Ich habe Ihnen Essen mitgebracht«, sagte er liebenswürdig. »Sie müssen unbedingt etwas zu sich nehmen.«
    Rebecca richtete sich auf und betrachtete ihn argwöhnisch. Sie hatte in Hemd und Hose geschlafen.
    Paul versuchte es mit leichter Unterhaltung und hoffte, dass der Schlaf ihre Laune gebessert hatte. »Es schmeckt ganz köstlich. Das beste Essen, das ich bisher bekommen habe.« Er rührte die Suppe um und brachte ihr die Schale zur Koje.
    Als sie merkte, dass er sie füttern wollte, drehte sie den Kopf zur Seite.
    »Sie müssen essen!«, sagte er energisch. »So geht das nicht weiter.« Doch als ihr Kinn zitterte, wurde er sofort freundlicher. »Bitte, versuchen Sie es wenigstens.«
    Sie sprang von der Koje und flüchtete in eine Ecke. Als er ihr folgte, versteifte sie sich. »Lassen Sie mich in Ruhe!«, stöhnte sie. »Warum gehen Sie nicht einfach?«
    Paul war mit seiner Weisheit am Ende. Wütend knallte er die Schale auf den Tisch, dass die Suppe über den Rand schwappte. »Machen Sie doch, was Sie wollen! Wenn Sie hungern, so kümmert mich das nicht.«
    »Das ist mir völlig klar«, erwiderte sie, doch da war er bereits hinausgestürmt.
    Stunden später war das Essen noch immer unberührt. Paul schüttelte den Kopf. Rebecca war wahrlich ein Dickkopf. Und offenbar wild entschlossen, ihm Schuldgefühle zu bereiten.
    Montag, 31. Dezember 1838
    In der Morgendämmerung des sechsten Tages kam New York in Sicht, doch es dauerte noch weitere vier Stunden, bis die Tempest endlich angelegt hatte. Drei Wochen zuvor hatte ein gewaltiger Schneesturm die Küste heimgesucht, und der Hudson war noch immer vereist.
    Nach dem Anlegen kehrte Paul ein letztes Mal in die Kabine zurück. Er warf sein Cape über, da die Luft sehr kalt war. Rebecca sah rasch beiseite, als er ihrem Blick begegnete. Er zögerte. Ihr Verhalten ihm gegenüber hatte sich nicht geändert, aber an diesem Morgen beunruhigte ihn etwas. Etwas, das er nicht benennen konnte.
    »Bei Dunkelwerden bin ich zurück«, sagte er. »Ich will nicht, dass Sie die Kabine verlassen. Haben Sie verstanden?« Im Gegensatz zu den letzten Tagen nickte sie sogar. In diesem Moment wusste er es.
    Er verließ die Kabine, nahm den Schlüssel vom Haken über der Tür und schloss hinter sich ab. Das metallische Geräusch war deutlich zu hören. Rebecca flog förmlich zur Tür und zog und zerrte am Knauf, aber nichts rührte sich. Mit beiden Fäusten hämmerte sie gegen die Tür. Ihr Plan war zunichtegemacht. »Lassen Sie mich hinaus!«, schrie sie.
    Zum ersten Mal seit fast einer Woche empfand Paul tiefe Genugtuung. »Sie bleiben, wo Sie sind!« Grinsend ging er von Bord und begab sich als Erstes zu Johns Stadthaus in der Sixth Avenue, dessen Adresse ihm George gegeben hatte.
    Als er das Hafengebiet verließ, staunte er über die vielen Menschen, die endlosen Häuserzeilen, den Lärm und die Größe dieser aufstrebenden Stadt. Seit er vor zwei Jahren den Bau seiner Schiffe in Auftrag gegeben hatte, war die Stadt unglaublich gewachsen. In der letzten Nacht war frischer Schnee gefallen und hatte die großen Abfallhaufen entlang der Straßen noch einmal überzuckert.
    Er nahm sich einen Wagen und rief dem Fahrer auf dem Kutschbock die Adresse zu. Der Mann fror in seinem viel zu dünnen Mantel und hatte eine fadenscheinige Decke über die Knie gebreitet. Den Kragen hatte er aufgestellt, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, und von Zeit zu Zeit blies er in die Hände und rieb sie gegeneinander, um sie warm zu halten. Erleichtert nahm Paul im geschlossenen Wagen Platz, lehnte sich zurück und ließ die Bilder, die Gerüche und die Geräusche der Stadt auf sich wirken. Doch seine Gedanken waren weit weg, und er fragte sich, was ihn wohl an seinem Ziel erwartete.
    Johns Stadthaus war verschlossen und dunkel. Am Vorabend des neuen Jahrs waren zum Glück einige Nachbarn zu Hause, aber leider konnten sie ihm so gut wie nichts sagen. Sie kannten John nur vom Sehen und wünschten einander gelegentlich einen guten Tag. Eine Frau berichtete ihm von einem unerhörten Zwischenfall

Weitere Kostenlose Bücher