Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Anfang Dezember, als die Polizei das Haus aufgebrochen und durchsucht hatte und die Nachbarn während der darauf folgenden Tage befragt hatte, ohne auch nur zu sagen, worum es überhaupt ging.
Paul war erleichtert und gleichzeitig verwirrt: Die meisten seiner Fragen hatten sich auf Johns möglichen Aufenthaltsort bezogen oder auf Familienmitglieder, die womöglich in der Stadt wohnten. Ob sich die beiden auf der Flucht befanden?
Am frühen Nachmittag fuhr er von der Sixth Avenue zur Hafenbehörde, wo er die Aufzeichnungen aller größeren Firmen durchschaute, um vielleicht auf jemanden zu stoßen, der den beiden Unterschlupf gewähren könnte. Die Angestellten waren ungeduldig und nicht sehr hilfsbereit. Am späten Nachmittag beschloss er, es für heute gut sein zu lassen. Vielleicht hatte er ja morgen mehr Glück und stieß auf jemanden, der ihm weiterhelfen konnte.
Wieder rief er einen Wagen herbei und ließ sich ins Zentrum der Stadt bringen, wo er ein hübsches blassgrünes Kleid erstand, das zu Rebeccas Augen passte, und außerdem Unterwäsche, ein Nachthemd und einen warmen Morgenmantel. Für sich selbst kaufte er einen warmen Wollmantel, einen Hut und Handschuhe. Er hatte jämmerlich gefroren und freute sich schon jetzt, wenn er morgen in warmer Kleidung die Suche fortsetzen konnte.
Es war schon dunkel, als Paul nach seiner erfolglosen Suche auf die Tempest zurückkehrte. Aber wenigstens hielt der Abend eine kleine Überraschung für ihn bereit. Er kam gerade dazu, als sich Kapitän Philip Conklin mit Johns New Yorker Agenten unterhielt. Roger Dewint kannte die Tempest noch nicht, doch als er die Flagge der Duvoisins am Mast wehen sah, ging er an Bord, um sich dem Kapitän vorzustellen. Was John oder seinen Vater anging, so konnte Dewint nichts Neues berichten. Immerhin besaß er eine Liste der Matrosen und Hafenarbeiter, die John anheuerte, sobald eines seiner Schiffe in New York festmachte. Die meisten der Männer waren ehemalige Sklaven. Roger Dewint schlug Paul vor, ihn zeitig am nächsten Morgen am Schiff abzuholen und zusammen mit ihm möglichst viele dieser Männer ausfindig zu machen. Wenigstens ein erster Erfolg.
Als Paul die Tür der Kabine aufschloss, empfing ihn tiefe Stille. Einen Augenblick lang hielt er die Luft an und fragte sich, ob Rebecca eine andere Möglichkeit zur Flucht gefunden hatte. Aber dann sah er sie. Sie saß, in eine Decke gewickelt, auf dem Bett und gab keinen Laut von sich. Paul schloss die Tür und steckte den Schlüssel ein. Dann legte er sein Paket auf einen Stuhl und zündete die Lampe an.
Als es klopfte, stellte sich Paul vor das Bett, während ein Mann eine Wanne in die Kabine schob. »Das heiße Wasser kommt sofort, Sir.«
Nachdem der Mann gegangen war, drehte Paul den Docht kleiner, bis die Koje völlig im Schatten lag. Misstrauisch beobachtete Rebecca ihn, sagte aber nichts.
Der Mann kehrte einige Male mit Krügen zurück, bis die Wanne mit dampfend heißem Wasser gefüllt war. Beim letzten Mal brachte er noch Seife, Waschlappen und Handtuch mit, bevor er sich endgültig zurückzog.
Paul verschränkte die Arme. »Sie nehmen jetzt ein Bad. Sie können das selbst tun … oder ich tue es. Sie haben eine halbe Stunde Zeit zum Nachdenken.« Rebecca schwieg. »Nun gut.« Er ging zur Tür. »Denken Sie daran: Wenn Sie warten, bis ich zurückkomme, ist das Wasser kalt. Im Paket sind übrigens die Sachen, die ich Ihnen versprochen habe.« Er deutete auf den Stuhl. »… für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen.«
Rebecca war überzeugt, dass Paul seine Drohung wahrmachen würde. Aber nicht mit ihr. Sobald er die Kabine verlassen hatte, zog sie sich aus und stieg in die Wanne. Den ganzen Tag über hatte sie nur gefroren. Umso mehr genoss sie jetzt die Wärme und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Rand. Irgendwann griff sie nach dem Lappen und wusch die Erinnerung an die letzten Tage gründlich von sich ab. Als ihr die Tränen in die Augen stiegen, tauchte sie den Kopf unter Wasser und wusch zuletzt noch ihr Haar.
Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie aus der Wanne stieg und sich zitternd in das große Handtuch hüllte. Neugierig betastete sie das Paket, und schließlich öffnete sie es fast gegen ihren Willen. Sie fand ein wunderschönes grünes Kleid und dazu Unterwäsche und Strümpfe. Das Nachthemd und den warmen Morgenmantel zog sie auf der Stelle an.
Als Paul zurückkam, saß sie im warmen Morgenmantel in der Koje, und das feuchte Haar umrahmte
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