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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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ihr hübsches, etwas müdes Gesicht.
    Er stellte ein Tablett auf dem kleinen Tischchen ab. »Essen Sie wenigstens mit mir?«, fragte er und staunte, als sie kaum merklich nickte.
    Als es klopfte, verschmolz Rebecca mit den Schatten. Paul sagte dem Mann, dass er die Wanne erst am Morgen holen solle. »Ich möchte auch noch baden«, bemerkte er, als sich die Tür geschlossen hatte.
    Dann setzte er sich an den Tisch, und sie aßen schweigend. Obwohl Rebecca nur wenig zu sich nahm, war Paul sichtlich erleichtert. Immerhin ein Anfang. Irgendwann legte er Messer und Gabel beiseite und sah sie an. »Warum wollten Sie heute Morgen weglaufen?«
    Sie hörte auf zu kauen und starrte wortlos auf ihren Teller.
    »Wissen Sie denn nicht, wie erbarmungslos eine so große Stadt wie New York ist? Bin ich denn so abscheulich, dass ich Sie nicht einmal nach Charmantes zurückbringen darf?«
    Sie konnte kaum schlucken. Ihre Kehle brannte. Als sie ihn ansah, glitzerten die grünen Augen verräterisch. »Ich möchte meinem Bruder keine Schande machen«, flüsterte sie. »Er kann sich denken, was geschehen ist. Er soll mich besser nicht mehr sehen. Also verschwinde ich.«
    Sie blinzelte die Tränen weg, und Paul begriff, wie sehr sie litt. Sie stand auf und drehte ihm verlegen den Rücken zu. »In diesen Tagen bin ich erwachsen geworden. Ich bin jetzt eine Frau«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Doch ich kann nicht behaupten, dass mir dieses Leben gefällt.«
    Eine unwiderstehliche Sehnsucht ergriff ihn, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, sie zur Koje zu tragen und zärtlich zu lieben, um ihr das Gegenteil zu beweisen. Aber die Stimme in seinem Kopf war nicht zu überhören: Charmaine. Denk an das Versprechen, das du Charmaine gegeben hast .
    Er holte tief Luft, um sich zu fassen. »Aber keiner muss jemals erfahren, was geschehen ist«, sagte er völlig ruhig. »Wenn alles gut geht, bringe ich morgen meinen Vater und meinen Bruder aufs Schiff. In diesem Fall überlasse ich Ihnen meine Kabine. Ich erzähle allen, dass ich Sie im Laderaum gefunden habe und zu Ihrem Bruder nach Charmantes zurückbringe. Sie hätten sich an Bord geschlichen, weil Sie unbedingt nach New York wollten. Für den Rest der Reise übernachte ich im Mannschaftsquartier, damit niemand dumme Fragen stellt.«
    Das war so gar nicht das, was sie hören wollte. Offenbar ging er davon aus, dass John noch lebte. Wenn Charmaine ihren Mann zurückbekam, war Pauls Versprechen hinfällig. Und doch machte er ihr keinen Antrag, ließ ihr nicht einmal eine kleine Hoffnung. Sie bedeutete ihm nichts. Sie war nichts weiter als ein flüchtiges Abenteuer, das sie ihre Unschuld gekostet hatte. Genau wie bei Felicia: aus den Augen … aus dem Sinn. Wenigstens hatte Felicia sein Bett öfter geteilt … und sie nur ein einziges Mal! Er zeigte keinerlei Verlangen nach ihr. In seinen Augen war sie noch ein Kind. Sie sollte das lieber so hinnehmen, damit es ihr nicht das Herz brach. Diesen Triumph wollte sie ihm nicht auch noch gönnen.
    Er wartete, bis sie ihm das Gesicht zuwandte, und war überrascht, als sie lächelte. Sein Plan schien ihre Zustimmung zu finden. Er atmete auf. Vielleicht fügte sich ja noch alles zu einem guten Ende.
    Während er badete, sah Rebecca öfter aus dem Halbdunkel zu ihm hinüber. Trotz seiner abweisenden Haltung sehnte sie sich nach ihm. Sie musste an sich halten, um sich ihm nicht ständig an den Hals zu werfen. Beim Gedanken an seine rauen Hände und seine leidenschaftlichen Küsse stiegen ihr die Tränen in die Augen. Und doch blieb ihr nichts anderes übrig, als still auf ihrem Platz zu verharren. Als Paul aus der Wanne stieg, wandte sie sich ab. Er war für sie verloren … und sie war nur ein kleines verrücktes Mädchen mit großen verrückten Träumen.
    Neujahrstag 1839
    Früh am Morgen verließ Paul das Schiff. Zuvor berichtete er dem Kapitän noch von seiner Entdeckung in dem Laderaum, einem jungen Mädchen, das sich aus Sehnsucht nach der großen Stadt als blinder Passagier an Bord geschmuggelt hatte. »Ihr Bruder ist sicher außer sich vor Angst«, sagte er. »Ich habe sie bis zum Auslaufen in meine Kabine gesperrt.«
    Philip Conklin runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts. Am Tag zuvor hatte man die Tempest entladen, aber einen blinden Passagier hatten seine Männer nicht entdeckt.
    Roger Dewint erwartete Paul bereits unten am Kai. Sie gingen kreuz und quer durch den Hafen und blieben immer wieder stehen, um mit einzelnen Männern zu

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