Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Mädchen davongestürmt waren.
Seine ernste Miene ließ Charmaine befürchten, dass sie etwas falsch gemacht hatte.
»Hat Sie eigentlich schon jemand zum Dinner und zum Ball eingeladen?«
Beklommen sah sie auf ihre Hände hinunter. »Nein«, flüsterte sie fast unhörbar. Sie dachte an Mercedes, und plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals. Jetzt will er mir auch die Teilnahme verbieten .
»Also gut.« Paul holte einmal tief Luft. »In diesem Fall möchte ich Sie gern einladen.«
Charmaines Kopf schoss in die Höhe, bevor sie ihre Tränen verbergen konnte. Der beste Beweis, dass er sie glücklich gemacht hatte. Paul strahlte Charmaine an, sodass sie sich ihm einfach in die Arme werfen musste.
»Darf ich das als ›ja‹ verstehen?«
»Aber ja!«, rief sie begeistert.
Er zog sie in die Arme und genoss den zarten Kuss, den sie ihm freiwillig darbot. Als der Kuss immer leidenschaftlicher wurde, löste er sich urplötzlich von ihr. Es erschreckte ihn, welche Wirkung sie auf ihn hatte. Seine Lust spiegelte sich in seinem Blick. »Ich fürchte, ich muss mich jetzt verabschieden, Mademoiselle«, sagte er leise keuchend, »sonst entführe ich Sie noch auf der Stelle in mein Zimmer.«
Ihr heftiges Erröten verfehlte seine Wirkung nicht. Als er sah, welche Gefühle seine Worte erweckten, wuchs seine Erregung. »Ich schicke Ihnen die Mädchen gleich nach oben«, murmelte er beim Hinausgehen.
Als Paul gegangen war, tanzte Charmaine quer durch den Raum. Der Ball! Und sie an Pauls Seite! Es war einfach unglaublich! Sie brauchte ein Kleid! Morgen würde sie in die Stadt reiten und Mercedes dazu einladen. Ja, Mercedes würde ihr helfen, das schönste Kleid auszusuchen!
Noch auf der Treppe überlegte Paul, warum er immer wieder gezögert hatte, Charmaine zu verführen. Sie war die Frau, auf die er gewartet hatte. Doch wenn er sie so begehrte, ja, liebte, wie er glaubte, warum wartete er dann so geduldig? An manchen Tagen konnte er die Gedanken an sie völlig aus seinem Kopf verbannen, doch an anderen trieb ihn allein ihre sture Weigerung zum Wahnsinn. Begriff sie denn nicht, dass er ein Gentleman war und sie heiraten würde, wenn sie ihm im Bett gefiel? Ob er sich insgeheim darauf verließ, dass sie ewig auf ihn wartete? Früher oder später würden sie übereinander herfallen und sich lieben. Früher oder später wäre sie ihr einsames Bett endgültig leid und würde nur zu gern in seines fallen. Früher oder später wollte auch sie eine Frau werden … seine Frau. Vielleicht sogar früher als später … womöglich sogar in der Nacht nach dem Ball.
2
Sonntag, 18. März 1838
Richmond, Virginia
Seit ungefähr einem Monat hörte Father Michael Andrews jeden Sonntag von Paul Duvoisins großartigem Fest, das eine ganze Woche lang dauern sollte. Wenn sich die Gemeindemitglieder nach der Messe auf den Stufen vor St. Jude versammelten, war es das beliebteste Thema, und die Spannung stieg von Sonntag zu Sonntag.
Vor zwei Monaten hatte Michael John Duvoisin zuletzt zu Gesicht bekommen. Vor seiner Abreise nach New York hatte er Pauls Einweihungsfest mit keinem Wort erwähnt, und Michael hätte gern gewusst, ob er daran teilnehmen wollte. Letztes Jahr noch hätte John nicht im Traum daran gedacht, überhaupt nach Charmantes zu reisen. Doch nach seiner unerwarteten Reise im vergangenen Sommer schien immerhin eine gewisse Möglichkeit zu bestehen. Irgendetwas drängte Father Michael, genauer nachzufragen, und so machte er sich nach dem Dinner auf den Weg zu Johns Stadthaus. Der Butler teilte ihm mit, dass John zwar aus New York zurück sei, aber gleich nach der Ankunft auf die Plantage weitergereist sei, wo die Pflanzsaison soeben begonnen hatte. Vor Mitte April erwartete er ihn nicht zurück. Verdutzt stieg Michael wieder in seinen Wagen, doch er war kaum abgefahren, als er auch schon umkehrte und sich den Weg zur Plantage beschreiben ließ. Er wollte am nächsten Morgen in aller Früh aufbrechen. An Montagen war im Waisenhaus für gewöhnlich nicht viel los, sodass man auf seine Anwesenheit verzichten konnte.
Montag, 19. März 1838
Gegen vier Uhr nachmittags kam Father Michael im malerischen Farmhaus von Freedom an, doch außer den Bediensteten war niemand zu Hause. John war im Morgengrauen mit seinem Aufseher zu den Tabakfeldern aufgebrochen und wurde nicht vor der Abenddämmerung zurückerwartet. Ein Diener machte es ihm im Salon bequem und versorgte ihn mit Tee und Gebäck und einem Buch. Michael versuchte zu lesen, aber
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