Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Frederic und Agatha hin und her, die einander feindselig anstarrten.
»Ist was wahr?«, fragte Frederic konfus.
»Was Agatha betrifft.«
Frederic ließ den Kopf sinken, doch Agatha lächelte siegesgewiss.
»Also sind Sie meine Mutter?«, stieß Paul ungläubig hervor, während sich die Erkenntnis bereits Bahn brach.
»Sag es ihm, Frederic«, drängte Agatha. »Ist es nicht an der Zeit, dass dein erwachsener Sohn die Wahrheit über uns erfährt?«
Frederic sah in Pauls gequältes Gesicht und wusste, wie betrogen der sich vorkam. »Ich muss dir das erklären, Paul. Es ist eine komplizierte Geschichte.«
»Dessen bin ich sicher«, schnaubte Paul. »Ein echtes Lügengebäude, das du da errichtet hast.« Er hob die Hand, um seinen Vater am Sprechen zu hindern. »Aber jetzt will ich nichts hören! Ich muss meine Gäste begrüßen und will mir die Woche nicht durch ekelhafte Geständnisse verderben lassen. Dafür habe ich zu hart gearbeitet!«
John betrat sein Zimmer und warf den Seesack aufs Bett. Er war direkt in die Falle gegangen! Mit hämmerndem Schädel überlegte er, einfach umzukehren und das erste Schiff nach Richmond zu besteigen. Doch er konnte Charmaine und seine Schwestern unmöglich so enttäuschen. Er setzte sich, massierte seine Schläfen und holte langsam Luft, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Er überdachte noch einmal jedes Wort und fragte sich, ob Westphal seinen Vater nicht genauso überrascht hatte wie ihn selbst. Genau genommen hatte Agatha den Banker zu dieser Äußerung gedrängt. Ja, Agatha hasste ihn, aber bis heute hatte er nicht gewusst, wie sehr. Seine Spottlust reizte sie zwar manchmal bis auf Blut, doch er bezweifelte, dass das allein ihr heutiges Vorgehen erklärte. Es musste noch einen anderen Grund geben. Nur welchen?
Als Anne London später am Abend mit ihrem Vater bei Tisch saß, verbot er ihr, auch nur ein Sterbenswörtchen von dem verlauten zu lassen, was sie am Nachmittag gehört hatte. Falls sie seine Position auf Charmantes gefährdete, war er entschlossen, ihre gut gehüteten Geheimnisse zu enthüllen.
Sonntag, 1. April 1838
Um vier Uhr morgens konnte Paul noch immer nicht einschlafen. Die Enthüllung des gestrigen Tages schien in der Nacht immer größer zu werden. Den Tag über war er seinem Vater aus dem Weg gegangen und hatte sogar eine geplante Besprechung mit zwei Tabakfarmern aus der Karibik abgesagt, weil er im Moment kein Interesse für Schiffe, Dampfantrieb oder Vertragsbedingungen aufbringen konnte. Mit einem Mal lag die Woche wie eine Last vor ihm. Er lief im Zimmer auf und ab, schlug sich die Faust in die Hand und rang mit der Wahrheit, die er verdauen und gleichzeitig von sich abschütteln musste, wenn die harte Arbeit nicht völlig umsonst gewesen sein sollte. Agatha war seine Mutter … seine Mutter, die angeblich tot war. Nach den Worten seines Vaters war sie tot! Es war unmöglich! Aber folgerichtig war es schon.
Wie war es überhaupt dazu gekommen? Hatte Agatha seinen Vater nach dem Tod seiner geliebten Elizabeth getröstet? Aber das konnte nicht sein. Angeblich war er ja älter als John. Oder war das auch gelogen? Wollte er es überhaupt wissen? Du willst es gar nicht wissen , redete er sich ein. Jedenfalls jetzt noch nicht. Schieb es weg. Lass dich nicht ablenken.
Er musste an die Luft. Er verließ sein Zimmer und ging zum Stall. Er sattelte Alabaster und ritt in scharfem Galopp in die Stadt. Dort stand er lange auf dem verlassenen Deck der Bastion , die John nach Charmantes gebracht hatte, und starrte über die Halbinsel auf den Ozean hinaus. Es regnete leicht. Du musst die Sache vergessen. Bis zum Ende dieser Woche musst du die Sache vergessen!
Zur selben Zeit lag Frederic im Bett und starrte zur Decke empor. Paul wusste es … endlich wusste er es . Vor diesem Tag hatte er sich gefürchtet. So viele Jahre lang hatte er Paul belogen. Als der Junge mit fünf Jahren herausfand, dass John und er nicht dieselbe Mutter hatten, hatte er ihm gesagt, dass seine Mutter ebenfalls gestorben sei. Es schien ihm die einfachste und schmerzloseste Lösung. Außerdem schützte er Agathas guten Ruf, die zu dieser Zeit verheiratet war. Obgleich Paul nie mehr nach seiner Mutter fragte, war Frederic oft unsicher, ob der Junge gern mehr erfahren hätte. Jetzt wusste er es. Pauls gequälter Gesichtsausdruck war Antwort genug. Wohin seine Unaufrichtigkeit wohl noch führte?
Und John. Das Fiasko heute Nachmittag bedeutete einen Schritt nach hinten und nicht, wie er
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