Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Reitkappe schließen wollten, und die großen braunen Augen, die ihre Freude über das Wiedersehen verrieten. In diesem Moment war er überglücklich, dass er gekommen war. Ganz langsam atmete er ein und fühlte, wie sich seine Brust weitete. Er hatte Charmaine sehr vermisst. Mehr, als er erwartet hatte. Er merkte kaum, als Jeannette ins Haus rannte, um ihrem Vater die gute Nachricht zu überbringen.
»Sie sehen gut aus, Mademoiselle.«
Das Blut pochte ihr in den Ohren, und ihr Herz schlug heftig. Liebevoll sah er sie an, als er die Stufen heraufkam, und sein schiefes Lächeln war ihr ein Quell der Freude. »Es geht mir auch gut«, hauchte sie. »Und wie geht es Ihnen?«
»Ebenfalls gut … einfach gut.«
»Sie sind zum Fest gekommen?«, stellte sie eher fest, als dass sie fragte.
»Ja, mein Vater hat mich eingeladen. Offenbar möchte er gern einiges aus der Welt schaffen.« Dann wanderte sein Blick zu Mercedes, die zusammen mit Charmaine aus dem Haus gekommen war. »Guten Morgen, Miss Mercedes.«
Mercedes murmelte einen kurzen Gruß und sah zu Boden.
Ein Anflug von Eifersucht befiel Charmaine, aber dann fiel ihr wieder ein, dass Mercedes Mrs London diese Bekanntschaft verdankte. Erleichtert bemerkte sie, dass John nur leise lachte und sich wieder ihr zuwandte.
»Bleiben Sie länger hier?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Das kommt darauf an. Wie ich sehe, wollten Sie gerade ausreiten.«
Bevor Charmaine antworten konnte, öffnete sich die Tür erneut, und Frederic trat mit einem Lächeln zu ihnen. Seine Augen blitzten.
»Willkommen zu Hause, John.«
John nahm sich zusammen, um nicht zu Stein zu erstarren oder gar wegzulaufen.
»Komm ins Haus.« Sein Vater deutete zum Eingang. »Im Arbeitszimmer wartet eine kühle Limonade.«
Als die Zwillinge ihren Bruder ins Haus zerren wollten, ging Frederic dazwischen. »Wenn ich mich recht erinnere, wolltet ihr doch mit Miss Ryan und Miss Wells ausreiten. Ihr seht euren Bruder noch lange genug.«
»Na los, Mädchen«, rief Charmaine, »die Ponys warten schon, und wenn wir noch lange trödeln, wird es zu heiß.«
Widerstrebend gehorchten die Zwillinge und wandten dem geliebten Bruder den Rücken zu. Charmaine sah den Männern nach und bemerkte noch, dass Agatha im Foyer stand und ihrem Feind hasserfüllt entgegensah. Dann schloss sich die Tür.
Mercedes beugte sich ganz nahe zu Charmaine. »Sie sind in ihn verliebt«, murmelte sie an ihrem Ohr.
Erschrocken fuhr Charmaine herum. »So ein Unsinn!«
Aber Mercedes lachte. »Kein Wunder, dass Paul nur ein ›guter Freund‹ ist.«
Paul begrüßte John mit Handschlag und freute sich sichtlich. John schlang ihm den Arm um die Schultern. »Heute beginnt also deine große Woche, Paul. Bist du bereit?«
Paul war über Johns Liebenswürdigkeit überrascht. »Ich habe mich noch nie im Leben besser gefühlt.«
Anne kam die Treppe herunter, doch als sie John bemerkte, drehte sie betont verächtlich den Kopf zur Seite, was ihm sehr gelegen kam.
Alle zusammen betraten sie anschließend das Arbeitszimmer, wo Stephen Westphal sie schon erwartete. Er presste einen Stapel Papiere an seine Brust, während seine Blicke ängstlich zwischen Frederic und John hin und her huschten. Frederic nahm wieder hinter dem Schreibtisch Platz, und Paul und John setzten sich ihm gegenüber. Agatha ging zu den französischen Fenstertüren, und Anne setzte sich auf eine der Polsterbänke. Felicia brachte einen Krug Zitronenlimonade und füllte alle Gläser.
»Ich vermute, dass du an Bord von Pauls Schiff gekommen bist«, sagte Frederic. »Wie war die Überfahrt?«
»Die See war ruhig, doch dank des kräftigen Windes haben wir die Überfahrt in Rekordzeit zurückgelegt. Ein prächtiges Frachtschiff, Paul. Die provisorischen Kabinen waren äußerst bequem. Wenn deine Gäste ihre Unterkunft bei Dulcie sehen, rennen sie schnurstracks zum Schiff zurück und mieten sich beim Kapitän ein!« Agatha runzelte die Stirn, was Johns Spottlust nur steigerte. »Fürwahr ein prächtiges Schiff … wenn erst die Lecks gestopft sind. Aber solche Schönheitsfehler sind bei einer Jungfernfahrt ja ganz normal.«
Paul schien besorgt. »Lecks? Aber es sollte keine …«
»Nur ein Scherz, Paulie.« John lachte. »Alles war in bester Ordnung.«
Jetzt konnte auch Paul lachen. »Was gibt es Neues in den Staaten?«
»Kommt ganz darauf an, wo du dich befindest.«
»Warum fängst du nicht gleich mit New York an?«, meinte Agatha bissig.
Misstrauisch sah John sie an.
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