Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
gehofft hatte, nach vorn. Als sein Stellvertreter hatte John in den Staaten freie Hand. Doch Frederic war enttäuscht, dass er Einzelheiten über seine Geschäfte von Westphal erfahren musste. Deshalb hatte er die Fassung verloren. Dabei hatte er, was John anging, schon Schlimmeres erlebt. Die Investitionen entsprachen zwar nicht der Tradition der Familie, doch sie klangen vernünftig und bestärkten Frederic in seiner Überzeugung, dass das Vermögen der Duvoisins bei John in fähigen Händen lag. Was seine Unterstützung geflohener Sklaven anging, so hatte Frederic Bedenken. Doch nach einigem Nachdenken war ihm klar geworden, dass Johns Kreuzzug nichts mit Rache oder Vergeltung zu tun hatte. Es war schlicht eine Sache, an die er glaubte.
Frederic seufzte tief. Dank Agatha waren jetzt beide Söhne wütend auf ihn. Irgendwie musste er den Schaden reparieren. Zuerst wollte er mit John allein sprechen. Dann war Paul an der Reihe. Zum ersten Mal fiel es ihm schwer, dem Sohn gegenüberzutreten, der ihn all die Jahre verehrt hatte. Auf jeden Fall wollte er Pauls Wunsch respektieren und abwarten, bis die Woche vorüber war.
Als John im vergangenen Herbst nach Virginia zurückgekehrt war, hatten ihn trotz härtester Arbeit Schlaflosigkeit und Träume gequält. Nacht für Nacht entführte ihn sein Albtraum in entlegene Gegenden, wo er ziellos zwischen gesichtslosen Fremden durch unbekannte Straßen lief. Als er um die Ecke in eine verwahrloste Gasse einbog, sah er plötzlich Pierre, der verdreckt und mit zerrissenen Kleidern zwischen Karren und Tieren inmitten einer Menschenmenge stand und verzweifelt die Gesichter um ihn her musterte. John rannte zu ihm, wollte ihn retten, doch je schneller er rannte, desto mehr geriet Pierre außer Reichweite, bis ihn die drängenden Körper verschluckten und John angesichts seiner Machtlosigkeit erwachte.
Kurz vor Weihnachten blieben die Träume plötzlich aus. Dann, in der Nacht von Michaels Besuch auf Freedom, kehrten sie zurück und quälten ihn während der nächsten Nächte. Früher hatte er die Träume seinem Schuldbewusstsein angelastet, aber jetzt war es anders. Irgendetwas deutete auf Charmaine hin und brachte ihn zu der Vermutung, dass er zu früh abgereist war. Dass er seine Vergangenheit erst hinter sich lassen konnte, wenn er, aus welchem Grund auch immer, noch einmal nach Hause fuhr. Seltsam, dass er wieder ruhig schlief, sobald er sich zu dieser Reise entschlossen hatte. Nun ja, bis heute Abend …
Als er der Müdigkeit nachgab, überkamen ihn bizarre Bilder, und zum ersten Mal seit letztem Oktober erschien ihm Colette. Wie immer schickte sie als Vorboten einen zarten Duft, der den Weg ins Zimmer ihrer geheimen Begegnung öffnete. Die Vorhänge bauschten sich, als ein Windstoß die Glastüren aufspringen ließ. John drehte sich um, weil er sie nicht sehen wollte, aber da war die Luft bereits von ihrem Duft erfüllt, und ihr Schatten fiel auf die Schwelle. Er wollte nicht, dass sie zu ihm kam, aber sie schien ihn zu brauchen. Sie kam näher, und die blauen Augen sahen ihn flehentlich an. Als er die Hand hob, um ihre Haut zu berühren, packte sie ihn und zerrte ihn zu den Glastüren. Doch er stemmte sich mit aller Kraft dagegen und riss sich los. Als sie erneut nach ihm griff, schrie er laut auf, als ob er sich verbrannt hätte … und erwachte.
Blicklos starrte er zur Decke empor. Hatte er wirklich geschrien? Er legte den Arm über die Augen und spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Das Laken war verschwitzt, und als er sich aufsetzte, drehte sich alles. Sein Magen rebellierte. Er ging zum Waschtisch, wusch Gesicht und Brust und stützte beide Hände auf den Tisch, um die Welt zum Stehen zu bringen.
Charmaine konnte ebenfalls nicht schlafen. Doch in den frühen Morgenstunden gab sie das Schäfchenzählen und Beten auf. Stattdessen schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und ging nach unten. Vielleicht half ein Buch aus der Bibliothek oder ein Glas warme Milch.
Im Haus war es totenstill, doch zu ihrer Überraschung saß John mit geschlossenen Augen am Schreibtisch. Die Lampen waren heruntergedreht, und sein Kopf war gegen die Lehne gesunken.
»John?«, flüsterte sie fast unhörbar. Und dann noch einmal »John?« Als er sich nicht regte, berührte sie seinen Arm.
Erschrocken riss er die Augen auf. »Na wunderbar! Vielen Dank, Miss Ryan«, brummte er. »Zum ersten Mal in dieser Nacht konnte ich schlafen, und da wecken Sie mich auf!«
»Es tut mir leid.« Sie war
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