Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
keine Pläne. Aber wer weiß? Vielleicht ändert sich das ja noch.«
Sie wusste nicht genau, was das heißen sollte, und wurde ernst. »Bleiben Sie nach dem Fest noch hier?«
»Ich muss eigentlich nach Virginia zurück.«
»Sofort?«
»Nun ja. Vielleicht bleibe ich den Zwillingen zuliebe noch etwas länger … bestenfalls ein paar Tage.« Er stand auf. »Ich will versuchen, noch ein bisschen zu schlafen, bevor das Haus aufwacht. Gute Nacht, Charmaine.«
Nachdem er fort war, stand sie noch eine Weile mitten im Raum. Schließlich gab sie den Gedanken an ein Buch auf und ging nach oben, um sich anzuziehen. Schlafen konnte sie jetzt nicht mehr.
Die lange Reise und die Auseinandersetzung mit seinem Vater holten John ein, und er fiel in einen traumlosen Schlaf. Als er lange nach der Lunchzeit erwachte, waren alle anderen bereits zu den Eröffnungsfeierlichkeiten in die Stadt aufgebrochen. Ihn freute es, denn er wollte den Nachmittag für sich allein haben. Auf Charmantes waren die Erinnerungen an Pierre besonders stark. Nach dem Essen sattelte er Phantom und ritt zum Friedhof, um nachzudenken und den Toten die Ehre zu erweisen. Anschließend durchstreifte er den Nachmittag über die Insel, folgte alten Spuren und suchte erinnerungsträchtige Orte auf, um mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen.
Inzwischen war es Abend geworden, die Luft war warm und weich, und die Blätter raschelten in der österlichen Brise. Die Enten schnatterten leise, und das Mondlicht warf lange Schatten über die Wiese. Von Weitem trug der Wind die Stimmen aus dem Wohnraum herüber. Nachdem George und Mercedes zu einem Spaziergang aufgebrochen waren und Charmaine mit den Mädchen nach oben verschwunden war, hatte John die anderen sich selbst überlassen und war in die friedvolle Stille der Säulenhalle geflüchtet.
Charmaine ging auf den Wohnraum zu, als plötzlich Anne Londons künstliches Lachen ertönte. Sofort änderte sie die Richtung und ging stattdessen zur Haustür, um vor dem Zubettgehen noch ein wenig Abendluft zu genießen. Sie war überrascht, als sie John, die Ellenbogen auf den Knien, auf der obersten Stufe sitzen sah. Er drehte sich um, als er jemanden aus dem Haus kommen hörte.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Charmaine und wandte sich ab, obwohl sie sich am liebsten zu ihm gesetzt hätte. »Ich wusste nicht, dass Sie hier draußen sind.«
»Gehen Sie nicht weg«, rief er. »Ich habe nur die Stille genossen. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir.«
Das musste er ihr nicht zweimal sagen.
Sie strich ihre Röcke glatt. »Ich habe Sie heute gar nicht gesehen.«
»Ich habe lange geschlafen, weil mich die Müdigkeit nach der langen Reise eingeholt hat. Aber warum sind Sie noch nicht im Bett? Sie haben doch auch nicht viel geschlafen.«
»Ich bin noch nicht müde. Sicher kommt das erst, wenn die Woche vorüber ist.«
Lächelnd betrachtete John ihr Gesicht.
»Wie war das Gespräch mit Ihrem Vater?« Diese Frage hatte Charmaine am Abend zuvor vergessen.
»Nicht besonders gut. Westphal hat eine lange Liste meiner Verfehlungen präsentiert, woraufhin mein Vater und ich uns sofort gestritten haben. Ich begreife wirklich nicht, warum er mich eingeladen hat.«
»Ihr Vater hat Westphal nicht um diese Liste gebeten«, bemerkte Charmaine. »Sondern Agatha.«
»Wirklich?« John war überrascht, dass sie zu demselben Schluss gekommen war.
»Westphal hat auch über mich Informationen eingeholt«, sagte sie. »Er hat die Geschichte meines Vaters ausgeforscht, als Agatha meine Entlassung erreichen wollte. Zu meinem Glück hat die Sache weder Paul noch Colette interessiert.«
Als sie Colette erwähnte, zeigte John keine Regung. »Und zum Glück für die Kinder«, ergänzte er.
»Nicht auszudenken, wenn es anders gekommen wäre. Agatha ruht nicht, bevor sie nicht alle vertrieben hat, die sie nicht leiden kann. Ich möchte wetten, dass sie diesen Streit ebenso vom Zaun gebrochen hat wie den im vergangenen Oktober. Ihr Vater wollte die Mädchen zu keiner Zeit ins Internat schicken. Aber sie ließ sie in dem Glauben, weil sie wusste, dass Yvette sofort zu Ihnen rennen würde. Ich kann Agatha nicht ausstehen, und ich verstehe nicht, warum Ihr Vater sie geheiratet hat.«
»Er wollte Colette bestrafen.«
Charmaine schwieg so lange, bis er sie fragend ansah. »Das glaube ich nicht«, sagte sie mit aller Vorsicht. Sie wusste, dass sie sich auf gefährliches Gebiet vorwagte. »Ihr Vater hat Colette geliebt.«
John gab nur einen
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