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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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spöttischen Laut von sich, damit sie weiterredete. »Ich weiß nicht, ob ich die Beziehung zwischen Ihrem Vater und Colette ganz verstehe, aber ich weiß, dass er sie geliebt hat.« Sie zögerte kurz. »Colette hat mir selbst gesagt, dass sie ihn liebt.«
    »Das ist doch nur natürlich. Schließlich musste der Schein gewahrt werden.«
    »Vielleicht.« Da John den Gedanken nicht zulassen wollte, verfolgte Charmaine ihn auch nicht weiter. »Jedenfalls hat Ihr Vater Sie nicht in böser Absicht nach Charmantes eingeladen. Im Gegenteil. Ich weiß, dass er das Geschehene sehr bedauert. Seit Sie fortgegangen sind, hat er sich sehr verändert. Er hat sein Schneckenhaus verlassen und kümmert sich wieder um seine Geschäfte und unternimmt Ausflüge mit seinen Mädchen.«
    »Gestern war davon aber nichts zu spüren.«
    »Vielleicht kam die Sache für ihn ja überraschend.« Sie seufzte. »Er hat Sie eingeladen, weil er sich mit Ihnen aussöhnen möchte. Dessen bin ich mir sicher.«
    John überlegte. Dasselbe hatte Father Michael gesagt. »Ich will Ihnen gern glauben, my charm , aber der Anfang ist jedenfalls gründlich misslungen.«
    »Das kann man wohl sagen. Aber alte Gewohnheiten sterben eben langsam. Geben Sie ihm noch eine Chance.« Um die Stimmung ein wenig zu lockern, wechselte sie das Thema. »Was sind denn Ihre jüngsten Verfehlungen?«
    »Die Liste ist lang, my charm .« Er lachte in sich hinein. »Ich möchte Sie ungern langweilen.«
    »Dann erzählen Sie mir doch von Ihrem Leben in Virginia. Darüber reden Sie nie.«
    »Das ist nicht besonders aufregend. Ich pendle fast nur zwischen Richmond und der Plantage hin und her.«
    »Leben Sie gern in Virginia?«
    »Ich hasse die Sklaverei, die Klassengesellschaft und erst recht die Spielchen, die man spielen muss, wenn man überleben möchte. Aber es gibt dort einige Menschen, die sich auf mich verlassen, und das macht es lohnenswert.«
    »Was würden Sie denn lieber tun?«
    »Ich würde viel lieber in New York leben, Piano spielen und komponieren. Aber damit lässt sich kein Geld verdienen, und ich liebe das Geld viel zu sehr, als dass ich ohne es auskommen könnte.«
    Charmaine lachte. »Sie haben ja keine Ahnung, wie wahr das ist. Sie waren niemals arm, aber ich schon. Einen Weg zurück gibt es da nicht!«
    Jetzt musste auch er lachen. »Was gefällt Ihnen am Leben in New York so gut?«, fragte sie einige Augenblicke später.
    »In Kürze wird New York der Nabel der Welt sein. Größer als London. Größer als Paris. Wer ehrgeizig ist, bekommt seine Chance. Das Einzige, was einen aufhalten kann, ist man selbst. In New York kann man von vorn anfangen.«
    »Fahren Sie deshalb so oft hin? Wollen Sie neu anfangen?«
    »Mag sein. Im Moment pendle ich zwischen zwei Welten.«
    »Ich würde New York gern einmal sehen«, erklärte sie mit Entschiedenheit und sah John an.
    Ihre Blicke trafen sich. »Und ich würde es Ihnen gern zeigen.«
    Sie konnte den Blick nicht abwenden und fühlte, wie sich ihr Magen verkrampfte, ihr Puls schneller ging und ihr Herz pochte. Langsam, fast unmerklich, beugte sich John näher zu ihr.
    In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Paul trat auf die Veranda. »Da sind Sie ja! Jeannette hat schlecht geträumt und ruft nach Ihnen.«
    Errötend sprang Charmaine auf und eilte an Paul vorbei ins Haus, ohne ihn anzusehen. Er sah ihr nach, aber als er sich zu John umdrehte, hatte sich dieser wieder der Wiese zugewandt und schien an Charmaine nicht weiter interessiert.
    Montag, 2. April 1838
    »Nein, nein, John«, erklärte Paul, »keine Schaufelräder. Die europäischen Ingenieure haben eine Art Schiffsschraube in Korkenzieherform entwickelt. Damit wollen sie den Atlantik in der halben Zeit überqueren.«
    »Seit es Lokomotiven gibt, halte ich alles für möglich«, sagte John.
    »Ist dir klar, was das für uns bedeutet?«
    Charmaine lauschte fasziniert. Die Mädchen spielten im Freien. Um sie im Blick zu behalten, schlenderte sie zu den französischen Terrassentüren hinüber.
    Als Nächstes fragte Paul seinen Bruder über die Gäste aus New York aus und wie er sie am besten davon überzeugen könne, sich in Zukunft seiner Schiffsflotte zu bedienen. Sie erwarteten die Rechtsanwälte der Familie. Vermutlich waren es die beiden würdigen Gentlemen, die soeben vor dem Haus aus dem Wagen stiegen, dachte Charmaine.
    Der eine war ein mittelgroßer Gentleman in mittlerem Alter, in dessen Haar und Bart sich erste silbrige Fäden zeigten. Der Jüngere

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