Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
die meisten Gäste in die Nähe der französischen Türen flüchteten. Erschöpft sank Charmaine auf einen Hocker. John stand nicht weit entfernt und unterhielt sich mit vier Geschäftsleuten. Offenbar ging es immer noch um Themen, die zuvor schon die Woche bestimmt hatten, zum Beispiel um den neuen Präsidenten, den Zusammenbruch der Bank of America und unweigerlich immer wieder um die Sklavenfrage. Während die anderen Männer ernsthaft diskutierten, war John eher ausgelassen und wurde immer lustiger, je verbissener und empörter die anderen reagierten. Ein überzeugter Virginier hätte ihn fast einen Verräter geschimpft, als er wiederholte, dass er Schutzzölle auf ausländische Importe befürwortete. Zwar waren sie den Schiffstransporten abträglich, doch andererseits förderten sie die Fabriken im Norden und damit seine Investitionen.
»Warum sollte das heute Abend anders sein?«
Eine Stimme, so rau wie Sandpapier, drang an Charmaines Ohr. Als sie sich vorsichtig umblickte, gewahrte sie zwei Matronen, die ihre Köpfe zusammensteckten und John fixierten.
»Wie Sie wissen, waren die Palmers vergangenen Februar in New York, und er hat tatsächlich die Frechheit besessen, seine Schlampe zur Dinnerparty bei den Severs mitzubringen. Von Sarah Palmers weiß ich, dass die Frau früher Sklavin auf seiner Plantage in Virginia war. Vor einigen Jahren hat er sie freigelassen und nach New York gebracht.« Sie grinste anzüglich. »Wir wissen doch alle, womit sie sich ihre Freiheit verdient hat!«
Die andere tat entrüstet. »Ich habe gehört, dass sie immer in seinem Haus wohnt, wenn er in New York ist. Wie jedermann weiß, ist sie seine … seine …«
»Geliebte!«, vollendete die erste Lady.
Sprachlos sah Charmaine zu John hinüber. Offenbar hatte er wenig Erfolg bei der Diskussion, denn er schüttelte den Kopf.
»Ob seine Geliebte in New York weiß, dass er hier noch eine andere hat?«
»Ausgerechnet die Gouvernante! Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche Lektionen sie seinen Schwestern beibringt!«
Die beiden lachten lauthals, doch als sie merkten, dass sie beobachtet wurden, steckten sie die Köpfe näher zusammen. »Was kann man schon von … weißem Abschaum erwarten? Wie kann man nur eine wie sie mit einer solchen Position betrauen!« Charmaine war zutiefst verletzt.
Im nächsten Moment erlöste sie Johns sanfte Stimme aus dieser Hölle. »Beachten Sie das Gerede nicht, Charmaine.« Und dann so laut, dass die Ladys ihn verstehen konnten: »Diese alten, unbefriedigten Kühe neiden Ihnen doch nur Ihre Jugend und Ihre Schönheit!«
Den Ladys klappten vor Entrüstung die Unterkiefer herunter, aber weitere Beleidigungen wagten sie nicht mehr.
Paul flüchtete sich in die verlassene Küche, um einen Augenblick durchzuatmen. Eine sanfte Brise wehte durch die Hintertür herein. Fatima arbeitete heute im Kochhaus direkt hinter dem Ballsaal. Solange er zurückdenken konnte, war die Küche immer sein Zufluchtsort gewesen, wenn er Sorgen hatte. Fatima schickte ihn niemals weg. Seit er alt genug war, um sich ein Plätzchen zu erbetteln, wusste sie um seine Seelenlage. Wenn er Trost brauchte, füllte sie ihm den Teller und stellte ein Glas Milch vor ihn auf den Tisch. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, schälte Kartoffeln oder knetete den Teig, und dazu summte sie mit ihrer tiefen Stimme eine sehnsuchtsvolle, traurige Melodie vor sich hin.
Aber Erinnerungen trösteten nicht ewig. Paul ließ sich auf einen Stuhl sinken, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und barg den Kopf in den Händen. Gestern hatte er sich dumm angestellt, und heute hatte er sich wie ein Rüpel benommen. Verdammt!
Plötzlich merkte er, dass er beobachtet wurde. Er hob den Kopf und sah zur Tür. Der Anblick des Mädchens traf ihn wie ein Blitz. Glattes schwarzes Haar umrahmte das schönste Gesicht, das er je gesehen hatte, und dichte dunkle Wimpern beschatteten die grünen Augen. Ihr Körper stand ihrem Gesicht in nichts nach. Sie war noch jung, sicher zehn Jahre jünger als er, schätzte er. Aber warum hatte er sie noch nie gesehen? Ein so hübsches Mädchen konnte man unmöglich übersehen. Ihr forschender Blick beunruhigte ihn ein wenig, sodass er sich erhob.
Rebecca hatte nicht damit gerechnet, ihn in der Küche anzutreffen, und schon befürchtet, dass sie ihn überhaupt nicht finden würde. Und dann war plötzlich Wirklichkeit, wovon sie seit Jahren träumte! Sie war mit Paul allein in einem Raum … und ihre Kehle war wie
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