Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
die sich um seine Schwestern gekümmert hat und die später mit John zum Ball gekommen ist. Ist das nicht seltsam?
Verdammt! Die letzte Nacht war ein einziges Debakel. Sicher hatte John davon profitiert. Er konnte zwar nicht verstehen, was Charmaine an John so begeisterte, doch er hätte die Anzeichen erkennen können. Die ganze Woche über konnte man sie bereits sehen. Dennoch hatte ihn nichts mehr gekränkt, als Charmaine an Johns Arm auf dem Ball zu sehen. Dabei war es seine Schuld. Wenn er ihr den Antrag früher gemacht hätte, hätte Agatha nicht gewagt, sich einzumischen.
Er verließ das Bett, zog sich an und eilte ins Esszimmer. Um diese Zeit war sicher noch niemand unten, der ihm die Ruhe streitig machen konnte.
Doch zu seinem Pech stürmten die Zwillinge aus der Küche herein.
»Guten Morgen, Paul«, begrüßte ihn Jeannette. »War der Ball nicht wunderschön?«
»Wunderschön fürwahr«, brummte er.
»Hast du Mademoiselle Charmaine gesehen?«, fragte Yvette.
»Nein. Ist sie denn nicht bei euch?«
»Wir haben sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen. In ihrem Zimmer ist sie nicht, und ihr Bett ist auch schon gemacht. Deshalb dachten wir, dass sie hier unten ist, aber Cookie hat sie auch nicht gesehen.«
Paul wurde neugierig. Weit nach Mitternacht hatte John mit Charmaine den Ball verlassen. Welchen Grund konnte es geben, dass sie so früh am Morgen aufstand und ihr Bett machte? Aber selbst wenn es so gewesen war, warum hatte sie den Kindern nicht gesagt, wohin sie ging? Plötzlich war sein Misstrauen geweckt.
»Ich habe eine Idee! Wir fragen John, ob er weiß, wo Mademoiselle Ryan ist. Yvette, du bekommst fünf Dollar, wenn du ihn dazu bringst, seine Tür zu öffnen.«
Zweifelnd sah Yvette ihren Bruder an, aber eine solche Summe konnte sie nicht ausschlagen, ganz gleich, was er dafür verlangte. Sie hatte schon für sehr viel weniger Bezahlung viel riskiert. Als sie vor Johns Zimmer angekommen waren, nickte Paul ihr aufmunternd zu.
Als Charmaine erwachte, erhellte das erste Tageslicht den Raum. Sie lag mit angezogenen Knien auf der Seite. Johns Brust schmiegte sich an ihren Rücken, seine Beine hatte er unter ihre geschoben, und einer seiner Arme lag besitzergreifend über ihren Schultern. Sie fühlte seinen ruhigen Atem in ihrem Nacken und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Sie hatte nicht lange geschlafen, aber dafür wunderbar tief und fest. Jetzt gehörte sie zu John. Bitte, lieber Gott, mach, dass er auch zu mir gehört .
Als ob sie den Wunsch laut ausgesprochen hätte, bewegte er sich, und sein Arm umschlang sie fester. Er küsste ihren Hals, und sie ahnte, dass er lächelte. Sie verharrten noch einige Zeit in dieser träumerischen Ruhe, bis er sich schließlich auf den Rücken rollte. Als Charmaine sich umdrehte, um ihn anzusehen, rollte er ihr Kissen zusammen, stopfte es unter seinen Arm und nickte ihr zu. Sie hatte sich gerade an ihn geschmiegt, als es klopfte.
Erschrocken fuhr sie in die Höhe und zog das Laken bis über ihre Brüste empor. Als es wieder klopfte, legte John den Finger auf die Lippen. »Wer ist da?«, fragte er.
»Ich bin es, Johnny«, sagte Yvette in halblautem Flüsterton. »Darf ich reinkommen?«
»Was willst du?« Er stand auf und schlüpfte in seine Badehose. Als sich Charmaine in gespieltem Entsetzen abwandte, musste er sich das Lachen verkneifen.
»Jeannette und ich suchen Mademoiselle Charmaine.«
John half Charmaine in ihren Morgenmantel und führte sie geräuschlos ins Ankleidezimmer. »Bleib hier«, flüsterte er, während seine Lippen zart die ihren liebkosten, »und verlasse den Raum nicht ohne mich!«
Er nahm einige Sachen aus dem Schrank, packte seine Stiefel und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Dann schloss er die Tür.
»… aber dort ist sie auch nicht«, sagte Yvette, als er in seine Hose schlüpfte. »Hast du sie gesehen?« Die Stille hinter der Tür ärgerte sie. »Mach endlich auf!«
»Ich ziehe mich gerade an«, rief John. »Habt ihr schon unten gesucht?«
»Habe ich doch gesagt … sie ist nirgends. Mach auf!«
Er schlüpfte in sein Hemd. »Einen Moment. Ich komme ja schon.«
Yvette schnappte sich die Fünf-Dollar-Note und schob sie in die Tasche, bevor John öffnete. Er war erstaunt, auch seinen Bruder vorzufinden.
»Guten Morgen, Paul. Suchst du auch nach Charmaine?«, fragte er, während er die letzten Knöpfe schloss.
»Genau das.« Paul spähte über Johns Schulter in den leeren Raum. »Wir sind sehr besorgt. Wie es
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