Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Charmaine auf!«
Ob es Gerede wegen der heimlichen Hochzeit am frühen Morgen gab, konnte Charmaine nicht feststellen. Während des Tages erhielt sie ständig Glückwünsche, und John stellte sie überglücklich allen vor, die ihren Weg kreuzten.
Von Paul sah sie zum Glück so gut wie nichts. Unmittelbar nach dem Frühstück brach er mit zwei Gästen auf, und sie war erleichtert, weil sie sich schon jetzt vor der Konfrontation fürchtete.
Zum ersten Mal seit Jahren pflegten Frederic und John eine herzliche Unterhaltung. Charmaine schlug die Augen nieder, wenn die beiden sie über den Tisch hinweg ansahen, doch wenn sie Frederics Gedanken hätte lesen können, hätte sie sich vermutlich geschämt.
Frederics Gedanken kreisten um die überstürzte Heirat. Hatte John Charmaine in der vergangenen Nacht verführt? Ihr gerötetes Gesicht ließ das vermuten. Aber das war jetzt gleichgültig. John hatte eine gute Wahl getroffen. Frederic fühlte sich seinem Sohn so nahe wie lange nicht mehr. Offenbar hatte er Colette endgültig begraben und war bereit für Charmaines Liebe. Paul war verärgert, so viel stand fest. Doch wenn er dieselbe Liebe wie John empfunden hätte, hätte er sich Charmaine sicher nicht entgehen lassen. Er konnte nur hoffen, dass Paul diese Ehe respektierte und sich die traurige Geschichte nicht wiederholte.
Im Lauf des Tages verabschiedete sich der Großteil der Gäste. Sie mussten noch am Abend in die Quartiere auf der Falcon , der Raven und zwei weiteren von Pauls Schiffen zurückkehren, damit diese in der Morgendämmerung Segel setzen konnten.
Agatha seufzte zufrieden, als der letzte Wagen abgefahren war. Der Verlauf der Woche hatte die Anstrengungen gelohnt. Für sie war die Woche wichtig gewesen, denn sie hatte zum ersten Mal als Hausherrin auf Charmantes im Mittelpunkt gestanden. Johns Hochzeit mit der Gouvernante war der Zuckerguss auf dem Kuchen und nach der kleinen Auseinandersetzung mit Frederic Balsam für ihre Seele. Wenn John in den nächsten Tagen Charmantes verließ, würde ihn Charmaine Ryan begleiten. Womöglich nahmen sie sogar die Zwillinge mit. Und wenn Paul endgültig auf Espoir wohnte, hatte sie ihren Mann endlich ganz für sich allein und konnte die wunderbaren Zeiten wieder auferstehen lassen, bevor das grausame Schicksal ihn von ihrer Seite gerissen hatte. Es wurde Zeit, dass sie ihren Bruder besuchte und ihm die guten Neuigkeiten überbrachte …
Als es klopfte, rechnete Robert Blackford eigentlich nur mit einem verzweifelten Patienten. Umso überraschter war er, als seine Schwester vor der Tür stand.
»Oh, Robert«, jubelte sie noch auf der Schwelle, »heute waren mir die Götter wohlgesinnt!«
Als sie sich umwandte, um ihn mit einem breiten Lächeln zu begrüßen, war er längst in seinem Schlafzimmer verschwunden. Agatha folgte ihm. Irgendetwas stimmte nicht. Auf dem Fußende seines Betts stand ein weit geöffneter Koffer, und er packte.
Sie war überrascht. »Verreist du?«
»Ja, ich gehe fort.«
»Du gehst fort? Das ist nicht dein Ernst. Die letzten Tage waren nicht einfach, aber unsere Pläne …«
»Deine Pläne, liebe Schwester, nicht meine.«
»Was soll das heißen? Meine Pläne? Du hast doch alle Träume und Wünsche mit mir geteilt, nicht wahr?«
»Ja, deine Träume und deine Wünsche.«
»Aber, Robert«, flötete sie in süßlichem Ton, »was soll denn das heißen?«
»Auch ich habe meine Wünsche«, zischte er und suchte ihren Blick. »Ich dachte, das hättest du verstanden. Du hast mich im Glauben gelassen, dass ich dir etwas bedeute. Aber nachdem ich in der letzten Nacht beobachtet habe, wie sehr du deinen Mann anhimmelst, kam ich mir plötzlich nur dumm vor. Ich habe mich zu lange mit den Brocken zufriedengegeben, die du mir hingeworfen hast.«
Empört wollte sie widersprechen, aber Robert ließ sie nicht zu Wort kommen. »Frederic bietet uns Sicherheit«, äffte er sie mit Piepsstimme nach. »Ich muss nur zuerst das Unrecht ausgleichen, das an mir verübt wurde … und dann … und dann, Robert, werden wir beide zusammen sein.« Dann sprach er hart und klar weiter. »Du hattest nie die Absicht, Frederic zu verlassen. Selbst jetzt nicht, wo du deine Ziele erreicht hast. Und das nach allem, was er dir angetan hat. Du liebst ihn! Du hast ihn immer geliebt! Selbst als du ihn gehasst hast, hast du ihn geliebt.«
»Ja, ich liebe Frederic!«, schrie sie.
»Warum machst du mir dann etwas vor? Du hast mich immer nur benutzt. Das weiß ich jetzt. Ich
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