Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
sollte in deiner Nähe bleiben, damit du mich für deine Zwecke benutzen kannst.«
Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Aber, Robert«, schnurrte sie, »das ist doch gar nicht wahr. Zu Anfang hast du doch sogar gern mitgemacht.«
»Ja. Weil ich dich geliebt habe … und weil ich den Mann verflucht habe, der dich beinahe zerstört hat!«
»Dafür werde ich dich auch immer lieben«, flüsterte sie und fuhr mit den Lippen über seine blässliche Wange. »Du bist doch mein Bruder.«
»Genug jetzt! Schluss mit den Spielchen!« Er schob sie zur Seite und nahm die nächsten Kleidungsstücke aus dem Schrank. »Du brauchst mich nicht länger. Und ich denke, dass ich inzwischen auch genug von dir habe. Zusammen mit den Gästen besteige ich morgen das Schiff nach Richmond und komme nicht mehr zurück.«
»Aber wie soll ich deine Abreise erklären?«
Mit schiefem Lächeln ließ er die Schlösser seines Koffers zuschnappen. »Du brauchst mich nicht, um auf die richtigen Ideen zu kommen, liebe Schwester. Schließlich ist das doppelte Spiel doch deine Spezialität.«
Sie bedrängte ihn nicht weiter und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Durch einen Vorhangspalt sah Robert ihr nach und kämpfte mit den Tränen, als sie in die Kutsche stieg. Alle Hoffnung, dass sie ihn zum Bleiben überreden würde, schwand, als die Pferde anzogen.
Agatha Blackford, die zweite Hälfte seines Ichs, hatte ihn verlassen … für immer verlassen. Dabei hatte er sie nie wirklich besessen. Sein Leben lang hatte er sich eingeredet, dass sie ihn liebte und dass sie ihm eines Tages ganz gehören würde, sobald sie ihre Ziele erreicht hatte. Doch im innersten Herzen hatte er die Wahrheit immer gewusst. Er sank aufs Bett, barg den Kopf in den Händen … und blickte auf die dreißig Jahre zurück, die zu diesem schrecklichen Augenblick geführt hatten.
Schon als Kinder hatten Agatha und er einander immer sehr nahegestanden – zu nahe, nach Meinung seines Vaters. Aber ihre Mutter hatte diese »Liebe« noch gefördert. Schließlich waren sie Zwillinge. Lucy Blackford hatte ihre beiden älteren Kinder vergöttert und die fünf Jahre jüngere Elizabeth eher missachtet, weil sie der Augapfel des Vaters war. Auch hatte sie geflissentlich weggesehen, wenn das kindische Ding unter Robert und Agatha leiden musste.
Robert Blackford war Kaufmann am Mersey River im Herzen von Liverpool und ein halbwegs vermögender Mann, der es sich leisten konnte, seinen Sohn zum Medizinstudium nach Oxford zu schicken. Damals vermisste Robert seine Schwester sehr. Wenn er auch nur geahnt hätte, dass der reichste Lieferant seines Vaters, Frederic Duvoisin, inzwischen ein Auge auf Agatha geworfen hatte, wäre er sofort nach Hause zurückgekommen und hätte der Liebesgeschichte ein Ende gemacht. Selbst heute plagte ihn noch die Eifersucht, wenn er sich erinnerte, wie Agathas Augen bei der bloßen Erwähnung von Frederics Namen geleuchtet hatten.
»Sei doch nicht dumm, Robert«, hatte sie ihm gesagt. »Ich bin eine alte Jungfer, und die Leute reden schon über uns! Ich liebe diesen Mann nicht, und ich werde dich immer in meiner Nähe behalten. Aber die Heirat mit ihm wahrt den Schein und schenkt uns Sicherheit. Außerdem möchte ich vielleicht eines Tages Mutter werden.«
Einige Zeit später wurde bereits die Hochzeit geplant. Agatha glaubte, dass Frederic Duvoisin sie liebte, doch im Grunde wollte dieser nur sein geschäftliches Bündnis mit ihrem Vater festigen und ein Familienunternehmen begründen. Die beiden Männer hatten Robert in einem nächtlichen Gespräch die Vorteile aufgezeigt, die beide Seiten von diesem Handel erwarten durften. Frederic wollte die Waren importieren und Robert senior sich um die Verteilung und die Kunden kümmern.
»Umso besser, wenn Agatha glaubt, dass sie Frederic liebt«, sagte Robert senior beim Verlassen des Gasthauses, in dem Frederic Duvoisin nächtigte.
»Aber sie liebt ihn nicht, Vater«, widersprach Robert.
»Und woher willst du das wissen?«
»Sie hat es mir gesagt.«
»Aber sie ist eine Frau, Robert, und eine wunderschöne obendrein. Sie hat viele Liebhaber abgelehnt, doch jetzt wird es Zeit. Frederic und sie sind ein schönes Paar. Außerdem befördert eine Heirat das Geschäft. Wenn Agatha Frederics Frau ist, wird er keine anderen Händler in England beliefern. Eine medizinische Praxis ist ein zweifelhaftes Unterfangen. Dagegen ist unser Geschäft bestens eingeführt. Du hast also immer etwas, worauf du dich im
Weitere Kostenlose Bücher