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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DeVa Gantt
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Erste an Pauls Bett. Es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte seinen ältesten Sohn verloren, dessen Liebe und Zuneigung er sich immer so sicher war. Die zweite Chance wollte er nicht ungenützt verstreichen lassen. Er beugte sich über das Bett. »Es tut mir leid, Paul«, flüsterte er.
    Paul schloss die Augen, um den Schmerz auf den Zügen seines Vaters nicht sehen zu müssen. Er wusste inzwischen, was im Hafen geschehen war und wie sehr sich alle um seine Rettung bemüht hatten.
    »Du hast uns einen riesengroßen Schrecken eingejagt, mein Sohn …« Frederic suchte nach Worten. «Ich weiß nicht, was ich getan hätte …« Seine Stimme versagte. »Du hast jedes Recht, mich zu hassen, Paul, aber ich liebe dich, und ich bin stolz und war immer stolz darauf, dich meinen Sohn zu nennen. Und falls du jemals daran gezweifelt hast, so bitte ich dich um Verzeihung. Ich habe mich zu sehr vor mir selbst geschämt, um dir die Wahrheit zu gestehen. Trotzdem hoffe ich inständig, dass du mir eines Tages vergeben kannst.«
    Paul hielt die Augen geschlossen, weil seine Lider wie Feuer brannten. Er mühte sich, die Tränen zu unterdrücken, aber er konnte nicht verhindern, dass kleine Rinnsale in sein Haar sickerten. Seine Kehle war wie ausgedörrt, und Schlucken und Atmen schmerzten sehr. Vorsichtig öffnete er die Lider und erblickte das Spiegelbild seiner eigenen schmerzvollen Züge. Als Frederic sich zum Gehen anschickte, hielt Paul ihn mit krächzender Stimme auf. »Ich bin nicht mehr wütend auf dich … Vater.«
    Im Spiegel ihres Frisiertisches beobachtete Charmaine ihren Mann. Seit sie nach Hause gekommen waren, hatte er keine zwei Worte mit ihr gewechselt. Sie fand seine mürrische Stimmung eher erheiternd und wollte ihn ein wenig necken.
    »Wie geht es Paul?«, fragte sie.
    Als John nur brummte, trat ein Funkeln in ihre Augen. Aber John sah nicht zu ihr hin, sondern setzte sich aufs Bett und zog seine Stiefel aus.
    Charmaine machte eine ernste Miene und ging zu ihm hinüber. »Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich Paul pflege, bis er wieder ganz bei Kräften ist?« Mit diesen Worten bückte sie sich, zog ihm den zweiten Stiefel vom Fuß und warf ihn in die Ecke.
    »Den Teufel wirst du tun!«, explodierte John und wollte aufspringen.
    Aber sie stieß ihn zurück. Dann drückte sie ihn aufs Bett hinunter und kicherte. »Der große John Duvoisin, der alle Welt zum Narren hält, verträgt keinen Spaß!«
    Als er die Brauen runzelte, glättete sie mit dem Finger seine Stirn und betrachtete seine Gesichtszüge. »Wenn du jetzt noch nicht weißt, dass mein Herz nur dir gehört, dann bist du ein Narr, Mr Duvoisin.«
    Bevor er etwas sagen konnte, verschränkte sie die Hände hinter seinem Kopf und küsste ihn mit großer Leidenschaft.
    Er umfing sie mit den Armen und rollte sie auf den Rücken. »Mein wildes, hemmungsloses Weib!«, stieß er hervor, bevor sich alle weiteren Gedanken verflüchtigten.
    Samstag, 19. Mai 1838
    Die nächsten beiden Tage war Paul damit beschäftigt, sich von dem Geruch des Getreides zu befreien, der in seine Haut, in sein Haar und seine Nase eingedrungen war. Seine Kehle war ausgedörrt, und er konnte gar nicht genug trinken, um den ständigen Durst zu löschen. Sein Körper schmerzte von Kopf bis Fuß, besonders die Brust. Dr. Hastings hatte die verletzten Rippen fachmännisch bandagiert, sodass er einen Halt hatte, aber dafür verzog er bei jeder noch so kleinen Bewegung schmerzhaft das Gesicht. Trotz allem war Paul glücklich, dass er noch am Leben war. Alle waren so sehr bemüht, es ihm bequem zu machen, dass er binnen kürzester Zeit ihrer Fürsorge überdrüssig war.
    Charmaine nutzte die Zeit, um eine neue Freundschaft mit Paul zu begründen. Sie mochte ihn, auch wenn John das nicht ganz verstand, und bedauerte die Entfremdung. Paul war immer ihr Schutz, ihre Festung gewesen, und sie schämte sich ihrer hasserfüllten Worte.
    Gegen Ende der Woche traf sie ihn einmal im Wohnraum an, als er in einem Sessel saß und Zeitung las. Bei ihrem Eintritt erhob er sich so schnell, wie der Verband um seine Rippen das zuließ.
    »Wie geht es Ihnen heute?«, fragte sie.
    »Sehr viel besser, danke. Und Ihnen?« Er hatte gehört, dass ihr die morgendliche Übelkeit zusetzte. Trotzdem sah sie bezaubernd aus. Die Mutterschaft bekam ihr gut.
    »Mir geht es bestens.«
    Stille breitete sich aus. Ihr wurde mulmig zumute, als Paul immer näher kam, bis er nur noch einen Atemzug von ihr entfernt war. »Sie

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