Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
zerzaust, der Morgenmantel war falsch geknöpft, und ihre Augen starrten ins Leere. Offenbar waren die Behauptungen seiner Haushälterin nicht aus der Luft gegriffen. Vor zwei Wochen hatte er Agathas Zustand noch ihrer schlimmen Lage zugeschrieben, doch jetzt war er ehrlich besorgt. Sie sprach nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen, die sie zu sehen glaubte: mit ihrem Bruder, mit Elizabeth und auch mit Colette, wie er vermutete.
»Agatha, was ist los?«
»Oh, Frederic!« Sie seufzte. »Da bist du ja! Ich höre ein Baby schreien, aber ich kann die Wiege nicht finden. Ich weiß nicht, wo Robert ihn hingebracht hat. Bitte, hilf mir, ihn zu suchen.«
»Agatha, ich bin es doch! Ihr Sohn … Paul.«
Sie achtete nicht auf ihn, sondern neigte den Kopf zur Seite, um besser hören zu können. »Hörst du das? Ich glaube, da weinen zwei Babys. Du hast Elizabeth doch nicht hergeholt, oder doch?«
»Agatha …«
»Ihr Bastard kommt mir nicht ins Haus!«
Erregt packte Paul Agatha an den Schultern und schüttelte sie so heftig, dass sie ihn ansehen musste. »Agatha! Mutter!«
Irgendetwas schien ihr zu dämmern. »Paul?«
»Ja, ich bin es. Ich fürchte, Sie schlafwandeln. Kommen Sie, ich bringe Sie wieder zu Bett.«
»Ich bin sehr müde«, murmelte sie. »Sag deinem Vater, dass ich in meinem Zimmer auf ihn warte.«
»Das mache ich, Mutter.«
John fand Charmaine in Pierres Bett, wo sie sich unter der Decke verkrochen hatte. Er hatte alle möglichen Verstecke im Haus abgesucht und kam sich ziemlich dumm vor. »Charmaine?«
Als sie nicht reagierte, nahm er sie auf die Arme und trug sie in ihr Zimmer. Charmaine murmelte im Schlaf und seufzte. Offenbar hatte sie sich in den Schlaf geweint. Er drückte sie an sich und küsste sie aufs Haar. Kurz vor ihrem Zimmer erwachte sie und sah zu ihm auf, als er sie aufs Bett legte.
»Es tut mir leid«, sagte er gepresst. »Ich werde …«
Sie verschloss ihm die Lippen mit dem Zeigefinger. Sie wollte Colettes Namen nicht mehr hören. John ergriff ihre Hand und küsste sie. Dann streckte er sich neben ihr aus und zog sie an sich. Charmaine spürte, wie sich seine Brust an ihrer Wange hob und senkte. Als sie den Arm um ihn schlang, hoffte er, dass ihm vergeben war.
»Ich habe dich gewählt und nicht deinen Bruder, und ich habe auf dich gewartet, obgleich Paul während deiner langen Abwesenheit immer an meiner Seite war. Warum also sollte ich mich ihm jetzt zuwenden? Ich liebe dich, John.«
Er küsste sie aufs Haar und lehnte sich mit geschlossenen Augen in die Kissen. Er glaubte ihr und schwor, die Eifersucht auf seinen Bruder endgültig zu begraben. Trotzdem war er froh, dass Paul wieder auf seine Insel zurückgekehrt war.
Auf Espoir stürzte sich Paul sofort in die Arbeit. Davon gab es genug, und wenn er in der Abenddämmerung nach Hause ritt, war er oft völlig erschöpft und zu nichts anderem mehr fähig, als zu schlafen. Wenn er sich nicht um die Zuckerpflanzungen kümmerte, so beaufsichtigte er den Verkauf der ersten Ernte. Es hatte fast zwölf Monate gedauert, bis das Zuckerrohr auf doppelte Mannshöhe gewachsen war. Die nächsten Felder hatte er zeitversetzt bepflanzt, um sich die Arbeit besser einteilen zu können. Denn mit der Ernte war der schlimmste Teil der Arbeit keineswegs getan. Sobald das Rohr geschlagen war, musste es verladen und zerkleinert werden. Anschließend wurden die Stücke gewässert und durch Walzen gequetscht, um die Melasse zu gewinnen, die im Lager in großen versiegelten Fässern auf den Abtransport wartete.
Paul verfügte über viele tüchtige Arbeitskräfte. Auf Anregung seines Vaters hin hatte er drei seiner besten Männer von Charmantes mitgenommen und sie mit der Leitung der einzelnen Produktionsphasen betraut. Andere Männer ohne eigene Familie waren ihm aus freien Stücken auf die aufstrebende Insel gefolgt, wo sie durch harte Arbeit voranzukommen und ein besseres Auskommen zu finden hofften.
Obgleich der Betrieb inzwischen weitgehend ohne ihn lief, half die Arbeit Paul dabei zu vergessen. Außerdem beflügelten sein Fleiß und sein Ehrgeiz die anderen, die härter arbeiteten als je zuvor. Nach drei Monaten konnte Paul zum ersten Mal tief durchatmen. Die ersten drei Schiffsladungen hatten inzwischen den Hafen verlassen, und das trotz der Regenperiode im Mai und Juni. Fürwahr kein schlechtes Ergebnis … und doch standen sie erst am Anfang.
Ende Juli veranstaltete Paul ein Fest und zahlte seinen Arbeitern eine Belohnung aus. Da
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