Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
sind glücklich, nicht wahr?«, raunte er.
»O ja.« Sie seufzte. »Sehr sogar.«
»Ich hätte Sie genauso glücklich machen können.«
»Wenn ich Ihren Bruder nicht getroffen hätte, ganz sicher, Paul.«
Er nickte versonnen, als ihm klar wurde, was er verloren hatte. Charmaine gehörte jetzt zu John, und er tat gut daran, das zu respektieren. Mit einer zarten Bewegung strich er ihr eine Locke hinters Ohr.
Sie zuckte nicht zurück und hätte beinahe geweint. »Ich möchte gern, dass wir Freunde bleiben, Paul«, flüsterte sie.
»Ich werde immer für Sie da sein, Charmaine. Sie müssen mir nur sagen, was Sie brauchen.«
Freitag, 25. Mai 1838
John war aufgebracht. Schon den ganzen Nachmittag über hatte es in ihm gegärt, und nun musste es heraus.
Charmaine sprang auf, als er die Schlafzimmertür hinter sich zuwarf. »Was ist geschehen?«, fragte sie besorgt.
Er rannte ein paarmal hin und her und blieb unvermittelt stehen. »Ich bin außer mir!«
Offenbar hatte sein Zorn mit ihr zu tun, aber sie war ratlos, was ihn so aufgebracht haben könnte. »Und warum?«
Ihre Frage reizte ihn noch mehr. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Spiel nicht die Unschuldige!«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Allmählich ärgerte sie sein kindisches Benehmen. »Warum sagst du nicht einfach, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist?«
»Als ich heute Nachmittag aus dem Stall kam, habe ich gesehen, wie Paul dich umarmt hat. Ihr habt beide gelacht!«
Charmaine kicherte erleichtert, aber John fand das weniger lustig. » Findest du das witzig? «
»Überhaupt nicht, denn du hast dich getäuscht. Ich bin auf der obersten Stufe der Veranda gestolpert, weil ich Jeannette mit dem schweren Limonadentablett helfen wollte. Zum Glück war Paul da und hat mich aufgefangen. Weil das sicher komisch ausgesehen hat, musste ich lachen. Paul ging es genauso.«
Die Erklärung schien ihn nicht zu beruhigen. Charmaine wusste nicht, was sie noch sagen sollte. »Du regst dich doch nicht nur auf, weil ich gestolpert bin? Ich bitte dich, John! Die Zwillinge waren ebenfalls auf der Veranda. Ich bin einfach nur ausgerutscht!«
»Richtig«, murmelte er, »genauso fängt es an … mit einem harmlosen Ausrutscher.«
Sie runzelte die Stirn. »Was sagst du da? Hat deine Affäre mit Colette etwa auch so begonnen? Ist sie dir in die Arme gestolpert?«
Ihre rasche Auffassungsgabe behagte ihm gar nicht, und er wandte sich ab. Aber so schnell wurde er Charmaine nicht los. »Ich sage dir etwas, John Duvoisin!«, schimpfte sie. »Ich bin nicht Colette, und ich werde niemals zulassen, dass du uns vergleichst.«
»Charmaine …«, begann er in sanfterem Ton.
»Nein! Ich will nichts mehr davon hören!« Sie rannte aus dem Zimmer und warf die Tür ins Schloss.
John seufzte. Er kam sich vor wie ein Idiot. Warum sollte sie sich wegen einer so harmlosen Szene schuldig fühlen? Ich muss lernen, ihr zu vertrauen, wenn unsere Ehe keine Farce werden soll!
Dann wurde ihm klar, dass sich sein Misstrauen nicht gegen Charmaine richtete, sondern gegen Paul, der Charmaine noch immer verehrte, obwohl sie jetzt verheiratet war. Er schämte sich seines dummen Benehmens, aber nicht Charmaine, sondern Colette gegenüber.
Pauls neue Haushälterin Grace war sehr erleichtert, als Paul endlich nach Espoir zurückkam. Obwohl der Haushalt nach dem Fest längst wieder in gewohnten Bahnen lief, konnte Agatha keine Ruhe finden. Sie geisterte durch die Räume und sprach mit sich selbst. Doch am meisten bestürzten Grace die Stimmen, die Agatha angeblich antworteten. Paul war kaum zu Hause, als die Frau ihm bereits die neueste Entwicklung berichtete.
Abends saß er mit einem Glas Brandy in der Bibliothek. Er fühlte sich wie neugeboren. Charmaine war endgültig verloren. Noch am Morgen hätte er sich fast mit seinem Bruder geprügelt. John hatte ihn im Stall abgepasst und behauptet, er habe Charmaine ungebührlich berührt. Dabei war sie nur gestolpert. Doch das Blut dröhnte ihm sofort wieder in den Ohren, wenn er daran dachte, wie er sie einen Augenblick länger im Arm gehalten hatte. Charmaine hatte vor Verlegenheit gelacht, und er vor Glück. John war völlig zu Recht so wütend geworden. Um solche Vorfälle zu vermeiden, wollte er sich in Zukunft von ihr fernhalten … und die meiste Zeit auf Espoir bleiben. Seufzend leerte er sein Glas und stand auf, um zu Bett zu gehen.
Stimmen in der Halle lockten ihn zur Tür. Agatha stand mitten im Foyer. Ihr Haar war
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