Die Macht des Feuers
versuchten Selbstmorden und allen möglichen übrigen Widernissen. In der Luft lagen der Geruch von Desinfektionsmitteln, Raumspray mit Veilchenduft und Bohnerwachs.
»Wo ist die Patientin?« fragte Nyeberg.
»Kommen Sie, Sir«, sagte Judy. Sie ging voraus und führte Nye-berg zu einem Abschnitt der Notaufnahme, in dem hektische Betriebsamkeit herrschte. Mehrere Leute vom Pflegepersonal und ein junger Assistenzarzt namens Waters, dem man auf hundert Meter ansah, daß er sich von dem Fall vollkommen überfordert fühlte, standen über den Metalltisch gebeugt, neben dem eine Reihe Apparaturen standen, darunter EEG und EKG.
Nyeberg trat an den Tisch, musterte die Patientin, die, in ein Ganzkörpergipskorsett gebettet, im schonungslosen Licht der Deckenstrahler lag, und schluckte trocken. Er hatte in seiner knapp zwanzigjährigen Laufbahn als Mediziner bereits eine Menge Brandopfer behandelt - Menschen, die bei Verkehrsunfällen in ihren brennenden Autos eingeklemmt worden waren; Selbstmörder, die sich selbst mit Benzin übergossen und angezündet hatten -, aber so ein Fall wie dieser war ihm noch nie untergekommen.
Schon auf den ersten Blick wurde deutlich, daß es wirklich ein Wunder war, daß die Frau, die da reglos und nackt auf dem Untersuchungstisch lag, noch am Leben war, was durch das rege Zucken ihrer lehmbraun verbrannten Lider dokumentiert wurde. Denn als Schwester Judy sagte, daß etwa achtzig Prozent ihres Körpers Verbrennungen aufwiesen, war das eine ausgesprochen optimistische Schätzung gewesen, wie Dr. Nyeberg bei näherer Betrachtung feststellte. Tatsächlich gab es nahezu keine Partie am ganzen Leib der Patientin, den das Feuer nicht angegriffen hatte.
Der Körper der Frau, deren Gesicht von eitrigen Brandblasen und mehreren grob sternförmigen Stellen, wo die Haut durch die Hitze aufgeplatzt war, so entstellt war, daß man ihr Alter unmöglich erahnen konnte, war eine Masse aus angesengtem Fleisch, rot und schwarz. Ihre gesamte Körperbehaarung war von den Flammen aufgezehrt worden. Vier Zehen fehlten, die übrigen waren durch die Knochenschrumpfung unnatürlich gekrümmt, wie die Klauen eines Raubvogels. Ebenso verhielt es sich mit den verbliebenen acht Fingern. Hinzu kamen mindestens ein Dutzend weiterer schwerer, durch das Feuer verursachter Verletzungen im Bereich des Kopfes, des Brustkorbs und des Unterleibs.
Mit einem leisen Seufzen beendete Dr. Nyeberg die Musterung der Patientin und wandte sich an Dr. Waters, der ebenso wie die anderen Anwesenden auf einen Kommentar des Mediziners wartete. »Wie sieht's aus?«
»Nicht gut«, sagte Dr. Waters. »Ihr Puls ist so schwach, daß ich ihn nicht messen kann. Dasselbe gilt für die Herzfrequenz. Überhaupt bewegen sich sämtliche Vitalfunktionen der Patientin auf einem Level, das so gering ist, daß man sie praktisch als nicht existent bezeichnen kann. Zudem hat die Frau einen schweren Schock erlitten.«
Nyeberg nickte und schaute hinüber zu den grünen Anzeigen des Elektroenzephalografen und des Elektrokardiogramms. Obwohl die Patientin durch Elektroden auf ihrer Brust und der Stirn mit den beiden Geräten verbunden war, zeigte lediglich das EEG, das die Hirn-tätigkeit der Frau kontrollierte, Werte an, während das EKG zur Messung der Herztätigkeit eine Nullinie aufwies.
Nyeberg runzelte die Stirn. »Ist das EKG mal wieder hin?«
»Nein, Sir«, entgegnete Waters. »Mit dem Gerät ist alles in Ordnung. Wie ich bereits sagte, wir können bei der Patientin abgesehen von den Hirnstromwellen nicht die geringsten Vitalzeichen erkennen.«
»Das ist unmöglich«, sagte Nyeberg. »Selbst wenn ihr Puls vollkommen im Keller ist, müßte das EKG dennoch die Werte ihrer Herztätigkeit registrieren.«
»Müßte schon«, bestätigte Waters. »Tut es aber nicht.«
Nyeberg schaute ihn mißbilligend an. Dann zog er sein Stethoskop aus der Tasche, beugte sich über die Frau und drückte das Rundteil behutsam unterhalb ihrer linken Brust auf die verbrannte Haut. Er war sich sicher, daß das EKG-Gerät nicht richtig funktionierte. Ebenso hielt er es für möglich, daß Waters bei der Untersuchung der Patientin in der ganzen Aufregung einen Fehler gemacht hatte.
Doch er täuschte sich.
Im Brustkorb der Patientin war es vollkommen ruhig. Nichts regte sich. Kein Herzschlag. Nicht einmal das leise Rauschen des zirkulierendes Blutes in den Adern war zu vernehmen.
Ungläubig steckte Nyeberg das Stethoskop in die Tasche und drückte mit Zeigefinger und
Weitere Kostenlose Bücher