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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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nicht anziehen, weil die zuerst kam. Das sagte seine Mom ihm immer, wenn er es mal vergaß, und dann mußte er wieder nach oben gehen und sich eine anziehen.
    Der Priester kam mit einer Babyunterhose zurück, nicht so eine wie die von seinem Dad, die aussah wie eine Shorts. Nathaniel war sicher, daß er sie aus der großen Kiste geholt hatte, wo die ganzen schmuddeligen Jacken und stinkigen Schuhe lagen, die Leute in der Kirche vergessen hatten. Wie konnte man bloß seine Schuhe vergessen und es nicht mal merken ? Das hatte Nathaniel sich schon immer gefragt. Und außerdem, wie konnte man seine Unterhose vergessen?
    Diese hier war sauber und hatte Spiderman drauf. Sie war zu klein, aber das war Nathaniel egal. »Gib mir die andere«, sagte der Priester. »Ich wasche sie und gebe sie dir zurück.«
    Nathaniel schüttelte den Kopf. Er zog seine Hose an und stopfte die alte Unterhose in die Känguruhtasche von seinem Sweatshirt, die klebrige Seite nach innen, damit er sie nicht anfassen mußte. Er spürte, wie der Priester ihm übers Haar strich, und wurde ganz starr, wie Granit, mit demselben harten Gefühl innerlich.
    Â»Soll ich dich denn nicht zurückbringen?«
    Nathaniel antwortete nicht. Er wartete, bis der Priester Esme hochgehoben hatte und gegangen war, dann schlich er über den Gang in den Heizungsraum. Da drin war es gruselig – kein Lichtschalter und Spinnweben und sogar das Skelett einer toten Maus. Hier kam nie einer hin, was Nathaniel nur recht war. Er warf die schlechte Unterhose ganz weit hinter die große Maschine, die summte und Hitze ausstieß.
    Als Nathaniel zurück in seine Klasse ging, las Vater Glen noch immer seine Bibelgeschichte vor. Nathaniel setzte sich und versuchte zuzuhören. Er paßte ganz genau auf, auch als er spürte, daß ihn jemand anstarrte. Als er aufsah, stand der andere Priester in der offenen Tür, hielt Esme auf dem Arm und lächelte. Mit der freien Hand hob er einen Finger an die Lippen. Psst. Nichts verraten .
    Das war der Augenblick, in dem Nathaniel alle Worte verlor.

    An dem Tag, an dem mein Sohn aufhörte zu sprechen, waren wir in die Kirche gegangen. Hinterher gab es noch Kaffee und Kuchen für die Gemeinde – was Caleb immer als biblische Bestechung bezeichnete, die Aussicht auf Donuts, wenn man schön brav in die Messe ging. Nathaniel sprang um mich herum, als wäre ich ein Maibaum, blickte hierhin und dorthin, während wir darauf warteten, daß Pater Szyszynski die Kinder zu seiner Lesestunde zusammenrief.
    Das Kaffeetrinken war in gewissem Sinne auch eine Abschiedsfeier für zwei Priester, die in St. Anne’s Bibelstudien betrieben hatten und jetzt zu ihren eigenen Gemeinden zurückkehrten. An dem verkratzten Tisch hing ein Spruchband, das ihnen eine gute Heimreise wünschte. Da wir keine regelmäßigen Kirchgänger waren, hatte ich die beiden Priester gar nicht richtig zur Kenntnis genommen.
    Mein Sohn war wütend, weil die Donuts mit Puderzucker alle waren. »Nathaniel«, sagte ich, »hör auf, an mir rumzuziehen.«
    Ich lächelte das Paar, mit dem Caleb sich unterhielt, entschuldigend an, Bekannte, die wir seit Monaten nicht mehr gesehen hatten.
    Da biß Nathaniel mir plötzlich aus unerklärlichen Gründen in die Hand.
    Ich fuhr zusammen, eher vor Schreck als vor Schmerz, und packte Nathaniel am Handgelenk. Ich steckte in dieser unangenehmen Zwickmühle, in die Eltern geraten, wenn ihr Kind in der Öffentlichkeit etwas getan hat, wofür es eigentlich bestraft werden sollte. »Mach das nie wieder«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen und versuchte zu lächeln. »Hast du verstanden?«
    Dann sah ich, daß die anderen Kinder hinter Pater Szyszynski die Treppe hinuntereilten. »Geh schon«, drängte ich. »Sonst verpaßt du die Geschichte.«
    Nathaniel vergrub seinen Kopf unter meinem Pullover. »Na los. Deine ganzen Freunde sind schon unten.«
    Er hatte seine Arme um mich geschlungen, und ich mußte sie von mir lösen und ihn in die richtige Richtung drängen. Zweimal blickte er sich um, und zweimal mußte ich aufmunternd nicken, damit er weiterging. »Tut mir leid«, sagte ich lächelnd zu unseren Bekannten.
    Erst jetzt fiel mir wieder ein, daß einer der anderen Priester, der größere, der immer eine Katze bei sich trug, als gehörte sie zu seiner geistlichen Kleidung, den Kindern

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