Die Macht des Zweifels
auffliegt und Nathaniel hereingestürmt kommt, steht Patrick wieder auf. Der Junge riecht nach Popcorn und trägt einen Stoffrosch unter der Winterjacke. »WiÃt ihr was«, sagt er, »ich war mit Daddy in der Spielothek.«
»Du bist ein Glückspilz«, antwortet Patrick, und seine Stimme kommt ihm selbst schwach vor. Dann tritt Caleb ein und schlieÃt die Tür hinter sich. Er blickt von Patrick zu Nina und lächelt beklommen. »Ich dachte, Marcella wäre noch da.«
»Sie muÃte weg. Hatte noch eine Verabredung. Und als sie losfuhr, kam Patrick gerade vorbei.«
»Ach so.« Caleb reibt sich den Nacken. »Und ⦠was hat sie gesagt?«
»Gesagt?«
»Ãber die DNA .«
Vor Patricks Augen wird Nina ein anderer Mensch. Sie wirft ihrem Mann ein strahlendes Lächeln zu. »Sie paÃt«, lügt sie. »Sie paÃt haargenau.«
Als ich vor die Tür gehe, betrete ich eine Zauberwelt. Die Luft ist eiskalt. Die Sonne vibriert wie kaltes Eigelb. Der Himmel scheint unendlich hoch und blau.
Ich bin unterwegs zu Fishers Büro, deshalb wurde mein elektronisches Armband deaktiviert. DrauÃen zu sein ist so herrlich, daà es fast das Geheimnis verdrängt, das ich in mir berge.
Patricks Angebot geistert mir wie Rauch durch den Kopf, so daà ich kaum klar sehen kann. Er ist der moralisch standhafteste Mensch, den ich kenne â er hätte mir niemals leichtfertig angeboten, mein Racheengel zu werden. Natürlich kann ich das nicht annehmen. Aber ich kann mir auch nicht die Hoffnung verkneifen, daà er vielleicht nicht auf mich hören und es trotzdem tun wird. Und gleichzeitig hasse ich mich dafür, daà ich so etwas überhaupt denke.
Ich sage mir auch, daà es noch einen anderen Grund gibt, warum ich nicht will, daà Patrick sich um Gwynne kümmert, auch wenn ich mir diesen Grund nur in den dunkelsten Nachtstunden eingestehen will: Weil ich es selbst tun will. Weil es mein Sohn ist, mein Kummer und meine Gerechtigkeit, für die ich selbst Sorge tragen muÃ.
Wann bin ich zu diesem Menschen geworden â eine Frau, die sich nicht scheut, einen Mord zu begehen, ja, wieder zu morden. War das schon immer ein Teil von mir, tief in mir vergraben, der nur auf seine Zeit gewartet hat? Vielleicht steckt ein verbrecherischer Keim auch in den ehrbarsten Menschen â wie Patrick â und braucht nur eine bestimmte Kombination von Umständen, um aufzugehen. Bei den meisten von uns schlummert er ein Leben lang. Aber bei anderen erblüht er. Und dann wuchert er unaufhaltsam wie Unkraut, erstickt jede Vernunft, tötet alles Mitgefühl.
Fishers Büro ist weihnachtlich geschmückt. Girlanden zieren den Kamin. Direkt über dem Schreibtisch der Sekretärin hängt ein Mistelzweig. Neben der Kaffeemaschine steht ein Krug mit warmem Apfelwein. Während ich darauf warte, daà mein Anwalt mich in sein Büro ruft, fahre ich mit der Hand über das Lederpolster der Couch, einfach weil es sich so anders anfühlt als das alte, vertraute Chenille-Sofa bei mir zu Hause.
Patricks Bemerkung, daà auch in einem Labor Fehler gemacht werden, geht mir nicht aus dem Sinn. Ich werde Fisher nichts von der Knochenmarktransplantation erzählen, nicht ehe ich mit Sicherheit weiÃ, daà Marcellas Erklärung korrekt ist. Wieso sollte Quentin Brown hinter diese abwegige Ausnahme bei der DNA kommen? Daher besteht keine Veranlassung, Fisher jetzt schon mit Informationen zu belasten, die er vielleicht nie erfahren muÃ.
»Nina.« Fisher kommt stirnrunzelnd auf mich zu. »Sie werden immer dünner.«
»So ist das bei Kriegsgefangenen.« Ich marschiere hinter ihm her, schätze die GröÃe der Flure und Räume ab, bloà weil sie neu für mich sind. In seinem Büro starre ich aus dem Fenster, wo die Finger der kahlen Ãste gegen die Scheibe trommeln.
Fisher bemerkt meinen Blick. »Möchten Sie gern ein biÃchen raus?« fragt er leise.
Es ist bitterkalt, weit unter dem Gefrierpunkt. Aber ich lehne nicht ab. »Das wäre schön.«
Also spazieren wir über den Parkplatz hinter dem Bürogebäude, wo der Wind kleine Wirbelstürme aus braunen Blättern auffliegen läÃt. Fisher hält einen Stapel mit Papieren in der behandschuhten Hand. »Wir haben das Gutachten des Psychiaters der Gegenseite bekommen. Sie haben seine Fragen nicht direkt beantwortet, oder?«
»Ach,
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