Die Macht des Zweifels
diesem quälenden Verlangen ist. Aber was ist, wenn die eigene Obsession nichts mit Drogen oder Nervenkitzel oder Geld zu tun hat? Was ist, wenn man nur den einzigen Wunsch hat, wieder so zu leben wie vor einer Woche, einem Monat, einem Jahr â und wenn man bereit ist, alles dafür zu tun?
Das war Ninas Irrtum: Sie hat das Anhalten der Zeit mit dem Zurückdrehen der Zeit verwechselt. Und er kann es ihr nicht verübeln, weil er jedesmal, wenn er mit ihr zusammen war, denselben Fehler gemacht hat.
Patrick weiÃ, daà er sich nicht die Frage stellen sollte, was er für Nina tun würde ⦠sondern was er nicht für sie tun würde.
Die Frau trägt meine Kleidung und meine Haut und meinen Geruch, aber sie ist nicht ich. Sünde ist wie Tinte, sie sickert in einen Menschen ein.
Worte können mich nicht zurückholen. Auch das Tageslicht nicht. Es gibt für mich kein Entrinnen mehr.
Es ist erschreckend. Ich frage mich, wer die Person ist, die da so tut, als lebte sie mein Leben. Ich möchte ihre Hand nehmen.
Und dann möchte ich sie mit aller Kraft von einer Klippe stoÃen.
Patrick zieht sich ein Kleidungsstück nach dem anderen aus, während er durch die StraÃen von Belle Chasse, Louisiana, geht, vorbei an schmiedeeisernen Toren und efeubewachsenen Höfen. In diesem Klima wirkt Weihnachten fehl am Platze; der Weihnachtsschmuck scheint in der feuchten Hitze zu schwitzen. Der Beweis dafür, daà Pater Szyszynski hier aufgewachsen ist, steckt in Patricks Brusttasche: die Kopie eines Eintrags in den standesamtlichen Unterlagen von New Orleans. Arthur Gwynne, geboren am 23.10.43 als Sohn von Cecilia Marquette Gwynne und Alexander Gwynne. Vier Jahre später die Hochzeit der verwitweten Cecilia Marquette Gwynne mit Teodor Szyszynski. Und 1951 die Geburt von Glen.
Halbbrüder. Während Patrick auf die gröÃte Kirche am Ort, Our Lady of Mercy, zusteuert, zwingt er sich, nicht darüber nachzudenken, was er machen wird, wenn er Pater Athur Gwynne gefunden hat.
Patrick trabt die Steintreppen hinauf und betritt das Hauptschiff. Direkt vor ihm ist ein Weihwasserbecken. Flackernde Kerzen werfen Wellen an die Wände, und das Licht, das durch ein Buntglasfenster fällt, malt einen leuchtenden Fleck auf den Mosaikboden. Ãber dem Altar ragt ein geschnitzter Jesus am Kreuz auf.
Es riecht förmlich nach Katholizismus: Bienenwachs und Feierlichkeit und Dunkelheit und Ruhe, und Patrick fühlt sich in seine Kindheit zurückversetzt. Er macht unwillkürlich das Kreuzzeichen, als er in eine der hinteren Bänke rutscht.
Vier Frauen haben die Köpfe zum Gebet geneigt, ihr Glaube umhüllt sie wie einst die Reifröcke die Südstaatendamen. Eine andere schluchzt leise in ihre Hände, während ein Priester sie im Flüsterton tröstet. Patrick wartet, fährt mit den Händen über das glänzende, polierte Holz.
Plötzlich zuckt Patrick zusammen. Hinter ihm schleicht eine Katze über den Rand der Bank. Wieder streift ihr Schwanz Patricks Hals, und er atmet stoÃartig aus. »Du hast mich zu Tode erschreckt«, murmelt er.
Die Katze blinzelt ihn an, dann springt sie geschmeidig in die Arme des Priesters, der neben Patrick getreten ist. »So was gehört sich doch nicht«, sagt der Priester tadelnd.
Patrick braucht einen Moment, bis ihm klar wird, daà der Mann mit der Katze spricht. »Entschuldigen Sie. Ich suche einen Pater Arthur Gwynne.«
Der Mann lächelt. »Sie haben ihn gefunden.«
Jedesmal, wenn Nathaniel seine Mutter sehen will, schläft sie. Selbst wenn es drauÃen hell ist. Stör sie nicht , sagt sein Vater. Sie möchte das jetzt so. Aber Nathaniel glaubt nicht, daà sie das möchte. »Wir müssen was tun«, erklärt Nathaniel seinem Vater, als sie nach drei Tagen immer noch schläft.
Aber das Gesicht seines Vaters verzieht sich seltsam. »Wir können nichts tun«, erklärt er Nathaniel.
Das stimmt nicht. Nathaniel weià es. Und als sein Vater nach drauÃen geht, um die Mülleimer an die StraÃe zu stellen, wartet Nathaniel ab, bis er das Schleifgeräusch auf dem Kies der Ausfahrt nicht mehr hört, und dann flitzt er nach oben in sein Zimmer. Er dreht seinen Abfalleimer um, damit er sich draufstellen kann, und holt das, was er braucht aus der Kommode. Leise öffnet er die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern und geht auf Zehenspitzen hinein, als wäre
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