Die Macht des Zweifels
der Boden aus Watte.
Er braucht zwei Versuche, um die Leselampe auf dem Nachttisch seiner Mutter anzuschalten, und dann krabbelt Nathaniel aufs Bett. Seine Mutter scheint gar nicht dazusein, sie rührt sich nicht mal, als er ihren Namen ruft. Er stupst sie an, dann zieht er die Decke weg.
Das Ding, das nicht wie seine Mutter ist, stöhnt und kneift die Augen in dem jähen Licht zusammen. Ihr Haar ist wirr und verfilzt, wie bei den braunen Schafen im Streichelzoo. Die Augen sehen aus, als wären sie ihr tief ins Gesicht gefallen, und rechts und links von ihrem Mund sind Furchen. Sie riecht nach Traurigkeit. Sie blinzelt Nathaniel einmal an, als wäre er etwas, das ihr irgendwie bekannt vorkommt, aber an das sie sich nicht genau erinnern kann. Dann zieht sie sich die Decke wieder über den Kopf und dreht sich von ihm weg.
»Mommy?« flüstert Nathaniel, weil dieser Ort hier Stille verlangt. »Mommy, ich weiÃ, was du brauchst.«
Nathaniel hat darüber nachgedacht, und er weià noch, wie das war, an einem dunklen Ort gefangen zu sein und es nicht erklären zu können. Und er weià auch noch, was sie damals für ihn getan hat. Also nimmt er das Zeichensprachenbuch von Dr. Robichaud und schiebt es unter die Decke, in die Hände seiner Mutter.
Er hält den Atem an, als ihre Hände über den Rand gleiten und die Seiten umblättern. Ein Geräusch ertönt, das Nathaniel noch nie gehört hat, als würde die ganze Erde aufreiÃen, oder vielleicht wie ein brechendes Herz â und das Buch rutscht unter der Decke hervor, fällt aufgeklappt zu Boden. Und plötzlich hebt sich die Decke, und er ist dort, wo er das Zeichensprachenbuch hingetan hatte, fest in ihren Armen. Sie hält ihn so fest an sich gedrückt, daà gar kein Raum mehr für Worte ist. Und das ist auch ganz egal, denn Nathaniel versteht genau, was seine Mutter ihm sagt.
Gott , denke ich und verziehe das Gesicht. Machen Sie das Licht aus .
Aber Fisher fängt an, die Blätter und Unterlagen auf der Decke auszubreiten, als hätte er tagtäglich Besprechungen mit Mandanten, die zu erschöpft sind, ihr Schlafzimmer zu verlassen.
»Gehen Sie weg«, ächze ich.
»Fakt ist, er hatte ein Knochenmarktransplantation«, sagt Fisher energisch. »Sie haben den falschen Priester erschossen. Wie müssen uns also irgendwas überlegen, wie wir daraus einen Vorteil schlagen können.« Unsere Augen treffen sich, und noch ehe er seine Kontrolle wiedergefunden hat, sehe ich den Schock und, ja, den Ekel, den er bei meinem Anblick empfindet. Ungewaschen, unbekleidet, verwahrlost.
Ja, schauen Sie mich an, Fisher , denke ich. Jetzt müssen Sie nicht mehr nur so tun , als wäre ich verrückt .
Ich rolle mich auf die Seite, und einige Unterlagen rutschen vom Bett. »Mit mir müssen Sie das Spiel nicht spielen, Nina«, seufzt Fisher. »Sie haben mich engagiert, damit Sie nicht ins Gefängnis wandern, und Sie werden auch nicht ins Gefängnis wandern, verdammt noch mal. Ich hab schon die notwendigen Anträge für ein Geschworenengericht gestellt, aber die können wir auch im letzten Moment zurückziehen.« Sein Blick wandert über mein Nachthemd, mein ungekämmtes Haar. »Vielleicht ist es leichter, eine einzelne Person davon zu überzeugen, daà ⦠daà sie unzurechnungsfähig waren.«
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf.
»Wir haben jetzt das Gutachten von OâBrien. Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Nina. Ich laà es Ihnen hier, dann können Sie es sich ansehen â¦Â«
Ich beginne zu summen, damit ich ihn nicht mehr hören kann.
»Schön.«
Ich stecke mir die Finger in die Ohren.
»Ich glaube, das wärâs fürs erste.« Ich spüre links von mir Bewegung, als er die Akten einsammelt. »Ich melde mich dann nach Weihnachten wieder.« Er entfernt sich von mir, seine teuren Schuhen streifen über den Teppich.
Ich habe einen Menschen getötet. Das ist ein Teil von mir geworden, so wie die Farbe meiner Augen oder das Muttermal auf meinem rechten Schulterblatt.
Als er gerade an der Tür ist, ziehe ich die Decke vom Gesicht. »Fisher«, sage ich.
Er dreht sich um, lächelt.
»Ich werde vor Gericht aussagen.«
Das Lächeln verschwindet. »Nein, das werden Sie nicht.«
»Doch.«
Er tritt wieder ans Bett. »Wenn Sie in den Zeugenstand gehen, wird Brown Sie in
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