Die Macht des Zweifels
Weihnachtsgeschenk entschieden, das ich letztes Jahr von Nathaniel bekam: winzigkleine Schneemänner aus Knetmasse.
Aber dennoch ist das alles nur oberflächlich. Ich habe Ringe unter den Augen, weil ich nicht mehr richtig geschlafen habe, seit sie fort sind. Als wäre das eine Art kosmische Strafe dafür, daà ich die Tage verdöst habe, als wir noch alle zusammen waren. Nachts wandere ich von Zimmer zu Zimmer, suche im Teppich nach den Stellen, die Nathaniel mit seinen FüÃen abgewetzt hat. Ich sehe mir alte Fotos an. Ich bin eine Spukgestalt in meinem eigenen Haus.
Wir haben keinen Weihnachtsbaum, weil ich nicht hinausgehen konnte, um einen zu schlagen. Traditionellerweise gehen wir am letzten Samstag vor Weihnachten in den Wald und suchen gemeinsam einen aus. Aber in dieser Adventszeit war nichts wie in früheren Jahren.
Um vier Uhr habe ich die Kerzen angezündet und eine Weihnachts-CD aufgelegt. Ich sitze da, die Hände im Schoà gefaltet, und warte.
Um halb fünf beginnt es zu schneien. Ich sortiere Nathaniels Geschenke neu, diesmal nach GröÃe.
Zehn Minuten später höre ich einen Wagen die Auffahrt heraufkommen. Ich springe auf, blicke mich ein letztes Mal nervös um und reiÃe dann mit einem breiten Lächeln die Tür auf. Der UPS -Mann steht müde mit einem Päckchen auf meiner Veranda. »Nina Frost?« fragt er gelangweilt.
Ich nehme das Päckchen, und er wünscht mir fröhliche Weihnachten. Drinnen auf der Couch reiÃe ich es auf. Ein ledergebundener Terminkalender für 2002, von Fishers Kanzlei. Auf der Innenseite des Einbandes steht: FROHE FESTTAGE von Carrington, Whitcomb, Horoby und Platt. »Den kann ich bestimmt gut gebrauchen«, sage ich laut, »wenn ich im Gefängnis sitze.«
Als die Sterne sich zaghaft am Nachthimmel zeigen, schalte ich die Stereoanlage aus. Ich blicke aus dem Fenster auf die Auffahrt, die allmählich unter dem Schnee verschwindet.
Schon vor seiner Scheidung hat Patrick sich an Weihnachten freiwillig zum Dienst gemeldet. Manchmal schiebt er sogar Doppelschichten. Die Notrufe kommen meist von älteren Leuten, die ein merkwürdiges Geräusch oder ein verdächtiges Auto melden, das aber stets verschwunden ist, wenn Patrick eintrifft. Im Grunde wollen die Menschen an einem Abend, an dem sonst niemand allein ist, nur ein biÃchen Gesellschaft.
»Frohe Weihnachten«, sagt er, als er sich von Maisie Jenkins verabschiedet, zweiundachtzig, seit kurzem Witwe.
»Gottes Segen«, ruft sie ihm nach und geht wieder in ihr Haus, das so leer ist wie das, zu dem Patrick zurückkehren wird.
Er könnte Nina besuchen, aber bestimmt hat Caleb Nathaniel heute abend zurückgebracht. Nein, da möchte Patrick nicht stören. Statt dessen steigt er in sein Auto und fährt durch die gepflegten StraÃen von Biddeford. Weihnachtsbeleuchtung strahlt auf Veranden und in Fenstern wie zahllose Juwelen, als wäre die Welt mit ungeahnten Reichtümern überhäuft worden. Während er langsam Streife fährt, stellt er sich die schlafenden Kinder vor. Verdammte Weihnachtsseligkeit.
Patrick merkt, daà er sich der Gegend nähert, in der die Frosts wohnen. Er will nur an Ninas Haus vorbeifahren, um sich zu vergewissern, daà alles in Ordnung ist. Das hat er seit seiner Rückkehr nach Biddeford, als Nina und Caleb bereits verheiratet waren, nur noch unregelmäÃig getan. Früher fuhr er in der Nachtschicht an ihrem Haus vorbei und sah, daà alle Lichter aus waren, bis auf das in ihrem Schlafzimmer. Vermutlich eine SicherheitsmaÃnahme, redete er sich damals ein.
Aber geglaubt hat er das bis heute nicht.
Es soll etwas ganz Tolles sein, das weià Nathaniel. Er darf an Heiligabend ganz lange aufbleiben, und er darf so viele Geschenke aufmachen, wie er will, nämlich alle. Und sie wohnen in einem richtigen alten Schloà in einem anderen Land, das Kanada heiÃt.
Alle reden in einer fremden Sprache, die Nathaniel nicht versteht, und das erinnert ihn an seine Mutter.
Er hat einen ferngesteuerten Truck ausgepackt, ein Stoffkänguruh, einen Hubschrauber. Matchbox-Autos in so vielen Farben, daà ihm ganz schwindelig wird. Zwei Computerspiele und einen winzigen Flipperautomaten, den er in einer Hand halten kann. Das ganze Zimmer ist übersät mit Geschenkpapier, das sein Vater jetzt ins Kaminfeuer wirft.
»Ziemlich fette Beute«, sagt er und lächelt Nathaniel
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