Die Macht des Zweifels
verdächtigt wurde, ihren fünfjährigen Sohn sexuell miÃbraucht zu haben. Doch sie hielt es nicht einmal für nötig, abzuwarten, ob sich der Verdacht als wahr erwies. Ich werde Ihnen wissenschaftliche, forensisch schlüssige Beweise vorlegen, daà Pater Szyszynski nicht der Mann war, der den Sohn der Angeklagten miÃbrauchte, und dennoch hat sie ihn ermordet.«
Quentin dreht sich wieder zu Nina Frost um. »Wenn in Maine jemand einen Menschen vorsätzlich tötet, ist er des Mordes schuldig. Und genau das hat sie getan, wie ich Ihnen im Laufe dieses Prozesses zweifelsfrei beweisen werde. Es spielt keine Rolle, ob der ermordeten Person eine Straftat zu Last gelegt wurde. Es spielt keine Rolle, ob die ermordete Person irrtümlich ermordet wurde. Wenn ein Mensch ermordet wurde, muà die Tat gesühnt werden.« Er blickt zur Geschworenenbank. »Und dafür, Ladies und Gentlemen, sind Sie zuständig.«
Fisher hat nur Augen für die Geschworenen. Er geht auf sie zu und blickt jeden Mann und jede Frau direkt an, stellt eine persönliche Beziehung her, bevor er das erste Wort spricht. Genau das hat mich immer wahnsinnig gemacht, wenn ich vor Gericht mit ihm zu tun hatte. Er hat die erstaunliche Fähigkeit, zu jedem Geschworenen eine gewisse Vertraulichkeit herzustellen, ganz gleich, mit wem er es zu tun hat.
»Was Mr. Brown Ihnen soeben erzählt hat, ist absolut richtig. Am Morgen des dreiÃigsten Oktober hat Nina Frost tatsächlich eine Pistole gekauft. Sie ist tatsächlich zum Gericht gefahren. Sie ist tatsächlich aufgesprungen und hat Pater Szyszynski viermal in den Kopf geschossen. Mr. Brown möchte Sie gern glauben machen, daà der Fall lediglich aus diesen Fakten besteht. Aber wir leben nun mal nicht nur in einer Welt der Fakten. Wir leben in einer Welt der Gefühle. Und eines hat er in seiner Version der Geschichte ausgelassen, nämlich was Nina Frost durch Kopf und Herz gegangen ist und sie letzen Endes zu diesem Schritt getrieben hat.«
Er stellt sich hinter mich, wie Quentin zuvor, um den Geschworenen zu veranschaulichen, wie ich mich an den Angeklagten herangeschlichen und ihn erschossen habe. Fisher jedoch legt seine Hände auf meine Schultern, und das ist tröstlich. »Wochenlang hat Nina Frost eine Hölle durchlebt, die keine Mutter und kein Vater durchleben sollte. Sie hatte erfahren, daà ihr fünfjähriger Sohn sexuell miÃbraucht worden war. Schlimmer noch, der Priester ihrer Gemeinde war von der Polizei als Täter identifiziert worden â ein Mann, dem sie vertraut hatte. Sie fühlte sich hintergangen, war untröstlich, voller Sorge um ihren Sohn und verlor nach und nach das Gefühl dafür, was richtig und was falsch ist. Das einzige, was sie schlieÃlich an dem Morgen beschäftigte, als sie zum Anklageeröffnungsverfahren des Priesters ging, war das Bedürfnis, ihr Kind zu beschützen.
Gerade Nina Frost weiÃ, wie unser Rechtssystem in Fällen von MiÃbrauch an Kindern funktioniert â und versagt. Gerade sie kennt die Gepflogenheiten an amerikanischen Gerichten, denn sie hat sich in den vergangenen sieben Jahren tagtäglich mit ihnen auseinandersetzen müssen. Aber am dreiÃigsten Oktober, Ladies und Gentlemen, war sie keine Staatsanwältin. Sie war Nathaniels Mutter.« Er stellt sich neben mich. »Ich bitte Sie, hören Sie genau zu, was hier gesagt wird. Und wenn es dann soweit ist, fällen Sie Ihre Entscheidung nicht nur mit dem Kopf. Fällen Sie sie mit dem Herzen.«
Moe Baedecker, der Besitzer von »Moeâs Gun Shop«, weià nicht wohin mit seiner Baseballmütze. Der Gerichtsdiener hat ihn gebeten, sie abzunehmen, doch sein Haar ist verfilzt und zerzaust. Er legt sie sich auf den Schoà und kämmt sich mit den Fingern durchs Haar. Als er seine Fingernägel sieht, die von Fett und Brüniermittel schmutzig sind, schiebt er sie rasch unter die Oberschenkel. »Ja, ich erkenne sie wieder«, sagt er und nickt in meine Richtung. »Sie war einmal bei mir im Laden. Ist schnurstracks zu mir an die Theke gekommen und hat gesagt, sie will eine halbautomatische Handfeuerwaffe.«
»Hatten Sie sie vorher schon mal gesehen?«
»Nein.«
»Hat sie sich denn gar nicht im Laden umgeschaut?« fragt Quentin.
»Nein.« Er zuckt die Achseln. »Ich hab kurz überprüft, ob irgendwas gegen sie vorliegt, aber sie war sauber,
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