Die Macht des Zweifels
rückt er mit der nächsten Frage raus: »Wieso schimpft Mommy mit mir, wenn ich mit einem Stock Pistole spiele, wo sie doch mit einer richtigen gespielt hat?«
Caleb wendet den Kopf und sieht, daà sein Sohn zu ihm hochblickt und eine Erklärung erwartet. Er setzt den Blinker und hält auf dem Standstreifen. »WeiÃt du noch, wie du mich gefragt hast, warum der Himmel blau ist? Wir haben im Internet nachgeschaut und lauter wissenschaftlichen Kram gefunden, den wir gar nicht richtig verstanden haben. So ähnlich ist es jetzt auch wieder. Es gibt eine Antwort, aber die ist richtig kompliziert.«
»Der Mann im Fernsehen hat gesagt, was sie getan hat, ist falsch.« Nathaniel nagt an seiner Unterlippe. »Und deshalb wird sie gleich ausgeschimpft, nicht?«
Ach herrje, wenn es nur so einfach wäre. Caleb lächelt traurig. »Stimmt. Deshalb.«
Er wartet ab, ob Nathaniel noch etwas sagen will, und als nichts mehr kommt, fährt Caleb weiter. Nach drei Meilen sagt Nathaniel zu ihm: »Daddy? Was ist ein Märtyrer?«
»Wo hast du das denn her?«
»Der Mann, gestern abend, im Fernsehen.«
Caleb holt tief Luft. »Das bedeutet, daà deine Mutter dich ganz doll liebhat. Und deshalb hat sie das getan, was sie getan hat.«
Nathaniel fingert an seinem Sicherheitsgurt herum, nachdenklich. »Warum ist es dann falsch?« fragt er.
Der Parkplatz ist ein Menschenmeer: Kameraleute versuchen, ihre Reporter ins Bild zu bringen, Techniker stellen die Verbindung zu ihren Satelliten ein, eine Gruppe militanter katholischer Frauen fordert, daà Nina der göttlichen Gerechtigkeit überantwortet wird.
Ein deutlich vernehmbares Raunen geht durch die Zuschauermenge, die auf den Stufen zum Gericht versammelt ist. Dann knallt eine Autotür, und Nina eilt die Treppe mit Fisher hinauf, der seiner Mandantin onkelhaft einen Arm um die Schultern gelegt hat. Gleichzeitig brechen Jubel und Buhrufe aus.
Patrick hat sich durch das Gewimmel gedrängt und ist jetzt fast an der Treppe. »Nina!« ruft er. »Nina.«
Sie scheint zu stocken, blickt sich um. Doch Fisher packt sie am Arm und schiebt sie ins Gebäude, ehe Patrick sie durch sein Rufen erreichen kann.
»Ladies und Gentlemen, mein Name ist Quentin Brown, und ich bin stellvertretender Generalstaatsanwalt des Staates Maine.« Er lächelt die Geschworenen an. »Sie alle sind heute hier, weil diese Frau dort, Nina Frost, am dreiÃigsten Oktober 2001 zusammen mit ihrem Mann zum Bezirksgericht Biddeford gefahren ist, um dem Anklageeröffnungsverfahren eines Mannes beizuwohnen. Im Gericht angekommen, ist sie noch einmal ohne ihren Mann weggefahren, und zwar nach Sanford, Maine, wo sie sich in âºMoeâs Gun Shopâ¹ für vierhundertzwanzig Dollar in bar eine Beretta, neun Millimeter, Halbautomatik und zwölf Schuà Munition kaufte. Sie steckte alles in ihre Handtasche, stieg in ihren Wagen und fuhr zurück zum Gericht.«
Quentin nähert sich den Geschworenen, als hätte er alle Zeit der Welt. »Nun, Sie selbst muÃten heute, bevor sie in den Gerichtssaal durften, durch eine Sicherheitsschranke gehen. Nicht jedoch Nina Frost an jenem dreiÃigsten Oktober. Warum? Weil sie seit sieben Jahren als Staatsanwältin am Gericht tätig war. Sie kannte den Gerichtsdiener, der an der Schranke postiert war. Sie ist ganz selbstverständlich an ihm vorbeigegangen, und sie hat die bereits geladene Pistole mit in einen Gerichtssaal genau wie diesen hier genommen.«
Er geht zum Tisch der Verteidigung, stellt sich hinter Nina und zeigt mit einem Finger auf ihren Hinterkopf. »Einige Minuten später hat sie Pater Glen Szyszynski die Pistole an den Kopf gehalten und ihn mit vier Schüssen getötet.«
Quentin nimmt die Geschworenen in Augenschein; sie alle blicken jetzt die Angeklagte an, genauso wie er es beabsichtigt hat. »Ladies und Gentlemen, der Tatbestand in diesem Fall ist eindeutig. WCSH News haben am besagten Vormittag über die Anklageeröffnung berichtet und Mrs. Frosts Tat mit der Kamera festgehalten. Die Frage, die Sie beantworten müssen, lautet also nicht, ob die Angeklagte die Tat begangen hat. Daà sie es getan hat, wissen wir. Die Frage lautet: Darf sie etwa ungestraft davonkommen?«
Er blickt den Geschworenen nacheinander in die Augen. »Nina Frost möchte Sie glauben machen, sie habe ein Recht auf Straffreiheit, weil Pater Szyszynski
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