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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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machen, mit Hilfe dieser Klänge zu navigieren, darauf zu lauschen, wie sie zu ihm zurückhallen.

    Dr. med. Martin Toscher ist zwar eine anerkannte Autorität auf seinem Gebiet, aber er würde liebend gern auf diese Lorbeeren verzichten, wenn er seinen Fachbereich damit überflüssig machen könnte. Ein einziges Kind auf Spuren sexuellen Mißbrauchs hin zu untersuchen ist schon mehr als genug, aber die Tatsache, daß er allein in Maine bereits Hunderte solcher Untersuchungen durchgeführt hat, ist zutiefst bestürzend.
    Das zu untersuchende Kind liegt auf dem Tisch, anästhesiert. Angesichts des traumatischen Charakters der Untersuchung hätte er selbst den Vorschlag gemacht, aber die Mutter ist ihm zuvorgekommen. Jetzt geht Martin wie üblich vor und spricht dabei laut vor sich hin, so daß seine Erkenntnisse aufgezeichnet werden können. »Glans-Penis wirkt normal.« Er dreht das Kind. »Um den Anus herum … sind zahlreiche, bereits abheilende Hautabschürfungen festzustellen, sie sind im Durchschnitt zirka ein bis anderthalb Zentimeter lang und haben einen Durchmesser von zirka einem Zentimeter.«
    Von einem Tisch nimmt er ein Analspekulum. Wenn es weiter oben in der Darmwand zusätzliche Schleimhautrisse gäbe, so wüßten sie das vermutlich inzwischen, weil das Kind schon erkrankt wäre. Aber er trägt ein Gleitmittel auf das Instrument auf und führt es behutsam sein, schließt die Lichtquelle an und säubert das Rektum mit einem Wattetupfer. Gott sei Dank, denkt Martin. »Der Darm ist acht Zentimeter tief unversehrt.«
    Er streift Handschuhe und Maske ab, wäscht sich die Hände und läßt die Krankenschwester allein mit dem Kind, das bald aufwachen wird. Als er aus dem Untersuchungsraum tritt, kommen die Eltern auf ihn zu.
    Â»Wie geht’s ihm?« fragt der Vater.
    Â»Nathaniel geht es gut«, antwortet Martin, die Worte, die jeder hören will. »Heute nachmittag wird er vielleicht noch ein wenig benommen sein, aber das ist ganz normal.«
    Die Mutter kommt direkt zur Sache. »Haben Sie etwas feststellen können?«
    Â»Es gibt tatsächlich Anzeichen dafür, daß ein Mißbrauch stattgefunden hat«, sagt der Arzt sanft. »Einige Abschürfungen im Rektalbereich, die aber bereits abheilen. Schwer zu sagen, wann ihm die Verletzungen zugefügt wurden, aber sie sind ganz sicher nicht frisch. Schätzungsweise eine Woche alt.«
    Â»Deuten die Verletzungen auf Penetration hin?« will Nina Frost wissen.
    Martin nickt.
    Â»Können wir zu ihm?« fragt der Vater des Jungen.
    Â»Bald. Die Schwester sagt Ihnen Bescheid, wenn er zu sich gekommen ist.«
    Er will gehen, aber Mrs. Frost legt ihm eine Hand auf den Arm. »Können Sie sagen, ob die Penetration mit einem Penis erfolgt ist? Oder mit einem Finger? Oder mit irgendeinem Gegenstand?«
    Eltern fragen, ob ihr Kind noch den Schmerz des Mißbrauchs spürt. Ob es durch die Narbe langfristig beeinträchtigt werden wird. Ob es sich später daran erinnern wird, was ihm zugestoßen ist. Aber so, wie Mrs. Frost fragt, kommt er sich beinahe vor wie in einem Kreuzverhör.
    Â»So genau läßt sich das unmöglich feststellen«, sagt der Arzt. »Im Augenblick können wir nur eines mit Sicherheit sagen, und zwar, daß tatsächlich etwas vorgefallen ist.«
    Sie wendet sich ab und taumelt gegen die Wand. Sinkt in sich zusammen. Sekunden später ist sie ein kleines, wimmerndes Häufchen Elend auf dem Boden, und ihr Mann legt tröstend die Arme um sie. Als Martin zurück in den Untersuchungsbereich geht, wird ihm klar, daß sie gerade zum ersten Mal wie eine Mutter reagiert hat.

    Es ist albern, ich weiß, aber ich bin schon immer abergläubisch gewesen. Ich streue mir zwar kein verschüttetes Salz über die Schulter und weiche auch keinen schwarzen Katzen aus und ziehe auch kein bestimmtes Paar Schuhe an, wenn ich in eine Verhandlung muß, aber ich habe stets geglaubt, daß mein eigenes Glück in direktem Zusammenhang mit dem Unglück anderer steht. Zu Anfang meiner Laufbahn habe ich mich förmlich um jeden Fall von Mißbrauch und sexueller Belästigung gerissen, die Scheußlichkeiten, mit denen sich keiner auseinandersetzen will. Ich habe mir eingeredet, wenn ich mich Tag für Tag den Problemen Fremder stellen würde, könnte mich das davor bewahren, mich meinen eigenen Problemen

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