Die Macht des Zweifels
stellen zu müssen.
Wer sich wiederholt mit Gewalt beschäftigt, stumpft dem Grauen gegenüber ab. Man kann Blut sehen, ohne mit der Wimper zu zucken, man kann das Wort Vergewaltigung aussprechen, ohne eine Miene zu verziehen. Doch es stellt sich heraus, daà der Schutzschild brüchig ist, daà alle Verteidigungswälle einstürzen, wenn der Alptraum das eigene Bett heimsucht.
Nathaniel, noch immer benommen von der Anästhesie, spielt mit einem Matchbox-Auto ruhig auf dem Boden in seinem Zimmer. In meinen Ohren klingen all die Dinge, die Nathaniel nicht sagt: Was gibtâs zum Abendessen? Darf ich am Computer spielen? Hast du gesehen, wie schnell das Auto gerade war? Seine Hände umschlieÃen das Matchbox-Auto wie die Pranken eines Riesen. In seiner Phantasiewelt hat nur er das Sagen.
Und dann spüre ich es, das zarte Gleiten über mein Bein, das Holpern über mein Rückgrat. Nathaniel schiebt das Matchbox-Auto über die LandstraÃe meines Armes. Er parkt es in der Vertiefung über meinem Schlüsselbein, berührt dann die Tränen auf meiner Wange mit einem Finger.
Nathaniel stellt das Auto ab und klettert auf meinen SchoÃ. Sein Atem ist warm und feucht an meinem Hals, als er sich enger an mich drückt. Mir wird ganz übel â weil er ausgerechnet zu mir kommt, damit ich ihn beschütze, wo ich ihn schon so jämmerlich im Stich gelassen habe. Lange bleiben wir so, bis der Abend kommt und Sterne auf seinen Teppich fallen, bis Calebs Stimme die Treppe hinaufkommt, nach uns sucht.
Kurz nach sieben Uhr verliere ich Nathaniel. Er ist an keinem seiner Lieblingsorte: nicht in seinem Zimmer, nicht im Spielzimmer, nicht auf dem Klettergerüst im Garten. Ich hatte gedacht, Caleb wäre bei ihm, und Caleb hatte gedacht, ich wäre bei ihm. »Nathaniel!« schreie ich in Panik, aber er kann mir ja nicht antworten â könnte mir nicht antworten, selbst wenn er bereit wäre, sein Versteck preiszugeben. Tausend Horrorszenarien jagen mir durch den Kopf. »Nathaniel!« schreie ich erneut, noch lauter.
»Du suchst oben«, sagt Caleb, und ich höre die Angst auch in seiner Stimme. Ehe ich antworten kann, eilt er schon in Richtung Wäschekammer; ich höre, wie die Tür des Trockners geöffnet und wieder geschlossen wird.
Nathaniel hat sich nicht unter seinem Bett oder im Schrank versteckt. Er hat sich nicht zwischen Spinnweben auf der Treppe zum Speicher zusammengerollt. Er ist nicht in seiner Spielzeugtruhe oder hinter dem groÃen Ohrensessel im Nähzimmer. Er hockt nicht unter dem Computertisch und auch nicht hinter der Badezimmertür.
Man könnte meinen, ich hätte einen Dauerlauf hinter mir, so schwer keuche ich. Ich lehne im Flur an der Wand des Badezimmers und höre, wie Caleb sämtliche Schranktüren in der Küche öffnet und zuknallt. Denk wie Nathaniel , beschwöre ich mich. Wo wärst du, wenn du fünf Jahre alt wärst?
Ich würde Regenbogen hinaufklettern. Ich würde Steine hochheben, um nach Grillen zu suchen, die darunter schlafen. Ich würde den Kies in der Einfahrt nach GröÃe und Farbe sortieren. Aber das alles hat Nathaniel früher getan, das alles macht die Welt eines Kindes aus, ehe es erwachsen wird. Ãber Nacht.
Aus dem Badezimmer ist ein leises Tröpfeln zu hören. Das Waschbecken. Nathaniel dreht den Wasserhahn nie richtig zu, wenn er sich die Zähne putzt. Plötzlich möchte ich diesen tropfenden Wasserhahn sehen, weil er das Normalste ist, das ich an diesem Tag zu sehen bekomme. Doch das Waschbecken ist knochentrocken. Ich drehe mich um, dahin, wo das Geräusch herkommt, ziehe den buntgemusterten Duschvorhang zur Seite.
Und schreie auf.
Das einzige, was er unter Wasser hören kann, ist sein Herz. Ist das bei Delphinen auch so, überlegt Nathaniel, oder können sie Sachen hören, die wir anderen nicht mitbekommen â das Wachsen der Korallen oder das Atmen der Fische? Er hat die Augen weit auf, und durch die Nässe zerläuft die Decke. Bläschen kitzeln ihn in den Nasenlöchern, und die Fische auf dem Duschvorhang lassen alles ganz echt aussehen.
Aber plötzlich ist seine Mutter da, hier im Ozean, wo sie nichts zu suchen hat, und ihr Gesicht kommt näher, groà wie der Himmel. Nathaniel vergiÃt, die Luft anzuhalten, als sie ihn am Hemd aus dem Wasser reiÃt. Er hustet, niest Meer aus. Er hört sie weinen, und das erinnert ihn
Weitere Kostenlose Bücher