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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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daran, daß er irgendwann sowieso hätte zurückkehren müssen.

    O Gott, er atmet nicht – er atmet nicht –, und dann schnappt Nathaniel tief nach Luft. In seinen durchnäßten Sachen ist er doppelt so schwer, aber ich zerre ihn aus der Wanne, so daß er schließlich tropfnaß auf der Badematte liegt. Calebs Füße kommen die Treppe heraufgepoltert. »Hast du ihn gefunden?«
    Â»Nathaniel«, sage ich dicht an seinem Gesicht, »was hast du denn bloß gemacht?«
    Das goldblonde Haar klebt ihm am Kopf, die Augen sind riesig. Seine Lippen zucken, suchen nach einem Wort, das nicht kommt.
    Kann ein Fünfjähriger Selbstmordgedanken haben? Was kann es sonst noch für Gründe dafür geben, daß ich meinen Sohn vollständig angezogen unter Wasser in der vollen Badewanne finde?
    Caleb drängt sich ins Badezimmer. Er wirft einen Blick auf den klatschnassen Nathaniel, dann auf die Wanne, aus der das Wasser noch abläuft. »Was ist denn hier passiert?«
    Â»Komm, wir ziehen dir die Sachen aus«, sage ich, als würde ich Nathaniel tagtäglich so vorfinden. Meine Hände greifen nach den Knöpfen seines Flanellhemdes, doch er dreht sich von mir weg, rollt sich zusammen.
    Caleb sieht mich an. »Sohnemann«, sagt er, »du wirst krank, wenn du das nasse Zeug anbehältst.«
    Als Caleb ihn hochnimmt, wird Nathaniel ganz schlaff. Er ist hellwach, sieht mich direkt an, aber ich könnte schwören, daß er gar nicht richtig da ist.
    Calebs Hände beginnen, Nathaniels Hemd aufzuknöpfen. Doch statt dessen schnappe ich mir ein Handtuch und wickele ihn darin ein. Ich halte es an Nathaniels Hals zusammen und beuge mich vor, so daß ich sein nach oben gewandtes Gesicht anspreche. »Wer hat dir das angetan?« will ich wissen. »Sag es mir, Schätzchen. Sag es mir, damit ich alles wiedergutmachen kann.«
    Â» Nina .«
    Â»Sag es mir. Wenn du es mir nicht sagst, kann ich nichts tun.« Meine Stimme versagt mitten im Satz. Mein Gesicht ist so naß wie das meines Sohnes.
    Er versucht es, o ja, er versucht es. Seine Wangen sind rot vor Anstrengung. Er öffnet den Mund, stößt einen Knoten Luft aus.
    Ich nicke ihm ermutigend zu. »Du schaffst das, Nathaniel. Weiter.«
    Die Muskeln an seinem Hals verkrampfen sich. Er klingt, als würde er wieder ertrinken.
    Â»Hat dich jemand angefaßt, Nathaniel?«
    Â»Herrgott!« Caleb reißt Nathaniel von mir weg. »Laß ihn in Ruhe, Nina!«
    Â»Aber er wollte gerade was sagen.« Ich stehe auf, drängle mich heran, damit ich Nathaniel wieder ansehen kann. »Das wolltest du doch, nicht wahr, Schätzchen?«
    Caleb hebt Nathaniel noch höher. Er geht wortlos aus dem Badezimmer, hält unseren Sohn eng an sich gedrückt. Er läßt mich in einer Pfütze stehen, überläßt es mir, die Schweinerei zu beseitigen.

    Wenn das Jugendamt des Staates Maine in einem Fall von Kindesmißbrauch ermittelt, kann von Ermittlungen eigentlich gar keine Rede mehr sein. Ein Fall wird erst dann offiziell eröffnet, wenn bereits psychiatrische oder physische Beweise für den Kindesmißbrauch vorliegen und der Name des mutmaßlichen Täters bekannt ist. Es gibt keinen Raum für Spekulationen. Die Rolle der zuständigen Sozialarbeiterin beschränkt sich lediglich darauf, für den Fall, daß es wundersamerweise doch zu einem Prozeß kommt, darauf zu achten, daß alles so abgelaufen ist, wie es der Gesetzgeber verlangt.
    Monica LaFlamme arbeitet seit mittlerweile drei Jahren in der Abteilung für Kindesmißbrauch des Jugendamtes, und sie hat es satt, immer erst während des zweiten Aktes gerufen zu werden. Sie sitzt in ihrem kleinen, grauen Büro und blickt durch das Fenster auf einen menschenleeren Kinderspielplatz. Da steht eine Metallschaukel auf einer Betonplatte. Ausgerechnet das Jugendamt hat den einzigen noch verbliebenen Kinderspielplatz in der Gegend, der nicht den neuesten Sicherheitsstandards entspricht.
    Sie gähnt, kneift sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. Monica ist müde, als wären die grauen Wände irgendwie langsam in sie eingedrungen. Sie hat es satt, Berichte vorzulegen, die nichts bewirken. Sie hat es satt, vierzig Jahre alte Augen in den Gesichtern von Zehnjährigen zu sehen. Sie braucht einen Urlaub in der Karibik, wo die Farben explodieren – blaue Brandung, weißer Sand, tiefrote

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