Die Macht des Zweifels
seinen Schlafanzug anbehalten, obwohl es schon fast Mittag ist. Leider ist ihm letzte Nacht wieder ein Malheur passiert, deshalb stinkt er nach Urin. Gestern brauchte Caleb über eine Stunde, um ihm die nassen Sachen auszuziehen. Ich brauche zwei Stunden, bis ich merke, daà ich heute morgen nicht die Kraft habe, mit ihm zu streiten. Statt dessen habe ich mich auf eine andere Schlacht verlegt.
Nathaniel sitzt wie eine Steinfigur auf seinem Hocker, die Lippen aufeinandergepreÃt, und widersteht allen Versuchen meinerseits, ihm etwas zu essen einzuflöÃen. Seit dem Frühstück am Vortag hat er nichts mehr zu sich genommen. Von Kirschen bis zu Ingwer habe ich ihm alles gezeigt. »Nathaniel.« Ich lasse eine Zitrone vom Tisch rollen. »Möchtest du Spaghetti? Hühnchen? Ich mach dir, was du willst.«
Aber er schüttelt bloà den Kopf.
Wenn er nicht essen will, ist das kein Weltuntergang. Nein, der war gestern . Aber ein Teil von mir glaubt, wenn es mir gelingt, meinen Sohn satt zu bekommen, dann wird er vielleicht nicht mehr so leiden.
»Thunfischsalat? Eiscreme? Pizza?«
Er fängt an, sich langsam auf dem Hocker zu drehen. Zuerst ist es ein Versehen â er rutscht mit dem Fuà ab und dreht sich einmal. Dann macht er es absichtlich. Er ignoriert mich mit voller Absicht.
»Nathaniel.«
Er dreht sich.
Etwas in mir zerreiÃt. Ich bin wütend auf mich, auf die Welt, aber weil es einfacher ist, fahre ich ihn an. »Nathaniel! Ich rede mit dir!«
Er sieht mich an. Dann dreht er sich langsam von mir weg.
»Du hörst mir jetzt zu, sofort!«
Mitten in diese Szene kommt Patrick hereinspaziert. Ich höre seine Stimme schon, noch ehe er bei uns in der Küche ist. »Armageddon muà unmittelbar bevorstehen«, ruft er, »weil ich mir keinen anderen Grund vorstellen kann, warum du zwei Tage hintereinander nicht zur Arbeit kommst, wo doch â« Als er um die Ecke biegt, sieht er mein Gesicht und wird langsamer, bewegt sich plötzlich mit der gleichen Behutsamkeit, mit der er einen Tatort betreten würde. »Nina«, sagt er ruhig, »alles in Ordnung?«
Alles, was Caleb letzte Nacht über Patrick gesagt hat, fällt mir wieder ein, und ich breche in Tränen aus. Nicht auch noch Patrick. Ich könnte es nicht ertragen, wenn mehr als eine Säule meiner Welt zusammenbricht. Ich kann einfach nicht glauben, daà Patrick meinem Sohn so etwas angetan haben könnte. Und hier ist der Beweis: Nathaniel ist nicht schreiend vor ihm weggelaufen.
Patricks Arme legen sich um mich, und ich schwöre, wären sie nicht da, ich würde zu Boden sinken. Ich höre meine Stimme, sie ist unkontrollierbar. »Mir gehtâs gut. Ich hab nichts«, sage ich, aber meine Beteuerungen zittern wie Espenlaub.
Mit welchen Worten erklärt man, daà das Leben von gestern nicht mehr das Leben ist, in dem man heute aufgewacht ist? Wie beschreibt man GräÃlichkeiten, die es gar nicht geben dürfte? Als Staatsanwältin kann ich mich hinter der kühl distanzierten Juristensprache verstecken â Penetration, Belästigung, Viktimisierung  â, doch keiner dieser Ausdrücke ist so brutal und so wahr wie der Satz: Mein Sohn ist vergewaltigt worden .
Patricks Augen wandern von Nathaniel zu mir und wieder zurück. Meint er, ich habe einen Nervenzusammenbruch? Daà der Streà mich in Stücke gerissen hat? »He, kleiner Krauter«, sagt er, sein alter Spitzname für Nathaniel, der immer ganz sprunghaft gewachsen ist. »Willst du mit mir nach oben gehen und dich anziehen, während deine Mom, ähm, die Küche aufräumt?«
»Nein«, sage ich im selben Moment, als Nathaniel aus dem Zimmer stürmt.
»Nina«, versucht Patrick es erneut. »Ist irgendwas passiert?«
»Ist irgendwas passiert«, wiederholt Nina, und die Worte kullern ihr wie Murmeln über die Zunge. » Ist irgendwas passiert. Tja, das ist die groÃe Preisfrage, nicht?«
Er starrt sie an. Wenn er gut genug hinsieht, wird er die Wahrheit finden. Das konnte er schon immer. Mit elf wuÃte er, daà Nina zum erstenmal jemanden geküÃt hatte, obwohl sie zu verlegen gewesen war, es Patrick zu erzählen. Und er wuÃte bereits, daà sie von einem weit entfernten College angenommen worden war, noch ehe sie den Mut fand, ihm zu beichten, daà sie aus Biddeford weggehen würde.
»Irgend jemand hat ihm etwas
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