Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
bereits untergegangen ist. Daß er bei der Arbeit das Ende des Tages verpaßt hat. »Was machst du denn da?« fragt Nina.
    Â»Wonach sieht’s denn aus?«
    Â»Jetzt?«
    Er dreht sich um, verbirgt den Spielzeugsoldaten in der Faust. »Warum nicht?«
    Â»Aber es ist … es ist …« Sie schüttelt den Kopf. »Ich bring Nathaniel ins Bett.«
    Â»Brauchst du meine Hilfe?«
    Noch während er den Satz ausspricht, erkennt er, daß sie ihn falsch verstehen wird. Möchtest du meine Hilfe, hätte er sagen sollen. Wie nicht anders zu erwarten, braust Nina auf. »Ich denke, nach fünf Jahren schaffe ich das ganz gut allein«, sagt sie und geht zum Haus zurück, wobei das Licht ihrer Taschenlampe wie eine Heuschrecke auf und ab springt.
    Caleb zögert, weiß nicht, ob er ihr folgen soll. Schließlich entscheidet er sich dagegen. Blinzelnd unter den Sternen, die wie winzige Punkte am Himmel stehen, legt er den grünen Soldaten in den Hohlraum zwischen den beiden Mauerwänden. Auf beiden Seiten legt er Ziegel auf, mauert weiter. Wenn die Mauer fertig ist, wird niemand wissen, daß dieser Infanterist in ihr schlummert. Das heißt, niemand außer Caleb, der sie tausendmal am Tag mit dem Wissen betrachten wird, daß zumindest eine makellose Erinnerung seines Sohnes gerettet wurde.

    Nathaniel liegt im Bett und denkt daran, wie er mal ein kleines Küken aus der Schule mit nach Hause gebracht hat. Na ja, es war noch kein richtiges Küken … es war ein Ei, das Miss Lydia in den Müll geworfen hatte, als ob sie alle zu dumm zum Zählen wären und nicht merken würden, daß statt vier nur noch drei Eier im Inkubator lagen. Aber die anderen Eier hatten sich in piepsende gelbe Wattebällchen verwandelt. Deshalb war Nathaniel, bevor sein Vater ihn abholen kam, in Miss Lydias Büro gegangen, hatte das Ei aus dem Mülleimer geholt und es sich in den Hemdsärmel gesteckt.
    Er hatte es unter sein Kopfkissen geschoben und darauf vertraut, daß es sich mit ein bißchen mehr Zeit schon in ein Küken verwandeln würde, wie die anderen. Aber das alles hatte ihm nur Alpträume beschert – wie sein Vater morgens Omelett macht, die Schale aufschlägt und ein lebendes Küken in das brutzelnde Fett fällt. Drei Tage später hatte sein Vater das Ei neben dem Bett gefunden, es war auf den Boden gefallen. Er hatte die Schweinerei nicht rechzeitig beseitigt: Nathaniel konnte sich noch immer an die silbern überzogenen toten Augen erinnern, an den verdrehten grauen Körper, an den Teil, der ein Flügelchen hätte werden können.
    Nathaniel hatte immer gedacht, das Ding, das er an dem Morgen gesehen hatte – ein Küken war das ganz sicher nicht –, wäre das Beängstigendste gewesen, das es überhaupt geben könnte. Noch jetzt sieht er das Bild manchmal, wenn er blinzelt, auf der Innenseite seiner Augenlider. Seitdem ißt er keine Eier mehr. Etwas, was von außen ganz normal aussieht, könnte sich nur verkleidet haben.
    Nathaniel starrt an die Decke. Es gibt aber noch beängstigendere Sachen – das weiß er jetzt.
    Die Tür zu seinem Zimmer öffnet sich noch weiter, und jemand kommt herein. Nathaniel denkt noch immer an das Ding und an das andere, und gegen das helle Licht vom Flur kann er nichts erkennen. Er spürt, wie etwas auf sein Bett sinkt, sich an ihn schmiegt.
    Â»Alles in Ordnung«, sagt die Stimme seines Vaters dicht an seinem Ohr. »Ich bin’s nur.« Seine Arme schließen sich fest um Nathaniel, so daß er zu zittern aufhört. Nathaniel schließt die Augen, und zum ersten Mal, seit er an diesem Abend im Bett liegt, sieht er das Küken nicht mehr.

    Unmittelbar bevor wir am nächsten Tag Dr. Robichauds Büro betreten, bin ich plötzlich voller Hoffnung. Was, wenn sie zu dem Schluß gelangt, daß sie Nathaniels Verhalten fehlinterpretiert hat? Was, wenn sie sich entschuldigt und die Akte unseres Sohnes mit einem dicken, roten FEHLDIAGNOSE abstempelt? Doch als wir hineingehen, gesellt sich noch eine weitere Person dazu, und schon zerplatzt mein Wunschtraum wie eine Seifenblase. In unserem kleinen York County könnte ich nicht in Kindesmißbrauchsfällen die Anklage vertreten, ohne Monica LaFlamme zu kennen. Ich habe nichts gegen sie persönlich, bloß gegen ihre Dienststelle. Bei uns im Büro bezeichnen wir das Jugendamt wahlweise als

Weitere Kostenlose Bücher