Die Macht des Zweifels
bereits untergegangen ist. Daà er bei der Arbeit das Ende des Tages verpaÃt hat. »Was machst du denn da?« fragt Nina.
»Wonach siehtâs denn aus?«
»Jetzt?«
Er dreht sich um, verbirgt den Spielzeugsoldaten in der Faust. »Warum nicht?«
»Aber es ist ⦠es ist â¦Â« Sie schüttelt den Kopf. »Ich bring Nathaniel ins Bett.«
»Brauchst du meine Hilfe?«
Noch während er den Satz ausspricht, erkennt er, daà sie ihn falsch verstehen wird. Möchtest du meine Hilfe, hätte er sagen sollen. Wie nicht anders zu erwarten, braust Nina auf. »Ich denke, nach fünf Jahren schaffe ich das ganz gut allein«, sagt sie und geht zum Haus zurück, wobei das Licht ihrer Taschenlampe wie eine Heuschrecke auf und ab springt.
Caleb zögert, weià nicht, ob er ihr folgen soll. SchlieÃlich entscheidet er sich dagegen. Blinzelnd unter den Sternen, die wie winzige Punkte am Himmel stehen, legt er den grünen Soldaten in den Hohlraum zwischen den beiden Mauerwänden. Auf beiden Seiten legt er Ziegel auf, mauert weiter. Wenn die Mauer fertig ist, wird niemand wissen, daà dieser Infanterist in ihr schlummert. Das heiÃt, niemand auÃer Caleb, der sie tausendmal am Tag mit dem Wissen betrachten wird, daà zumindest eine makellose Erinnerung seines Sohnes gerettet wurde.
Nathaniel liegt im Bett und denkt daran, wie er mal ein kleines Küken aus der Schule mit nach Hause gebracht hat. Na ja, es war noch kein richtiges Küken ⦠es war ein Ei, das Miss Lydia in den Müll geworfen hatte, als ob sie alle zu dumm zum Zählen wären und nicht merken würden, daà statt vier nur noch drei Eier im Inkubator lagen. Aber die anderen Eier hatten sich in piepsende gelbe Wattebällchen verwandelt. Deshalb war Nathaniel, bevor sein Vater ihn abholen kam, in Miss Lydias Büro gegangen, hatte das Ei aus dem Mülleimer geholt und es sich in den Hemdsärmel gesteckt.
Er hatte es unter sein Kopfkissen geschoben und darauf vertraut, daà es sich mit ein biÃchen mehr Zeit schon in ein Küken verwandeln würde, wie die anderen. Aber das alles hatte ihm nur Alpträume beschert â wie sein Vater morgens Omelett macht, die Schale aufschlägt und ein lebendes Küken in das brutzelnde Fett fällt. Drei Tage später hatte sein Vater das Ei neben dem Bett gefunden, es war auf den Boden gefallen. Er hatte die Schweinerei nicht rechzeitig beseitigt: Nathaniel konnte sich noch immer an die silbern überzogenen toten Augen erinnern, an den verdrehten grauen Körper, an den Teil, der ein Flügelchen hätte werden können.
Nathaniel hatte immer gedacht, das Ding, das er an dem Morgen gesehen hatte â ein Küken war das ganz sicher nicht â, wäre das Beängstigendste gewesen, das es überhaupt geben könnte. Noch jetzt sieht er das Bild manchmal, wenn er blinzelt, auf der Innenseite seiner Augenlider. Seitdem iÃt er keine Eier mehr. Etwas, was von auÃen ganz normal aussieht, könnte sich nur verkleidet haben.
Nathaniel starrt an die Decke. Es gibt aber noch beängstigendere Sachen â das weià er jetzt.
Die Tür zu seinem Zimmer öffnet sich noch weiter, und jemand kommt herein. Nathaniel denkt noch immer an das Ding und an das andere, und gegen das helle Licht vom Flur kann er nichts erkennen. Er spürt, wie etwas auf sein Bett sinkt, sich an ihn schmiegt.
»Alles in Ordnung«, sagt die Stimme seines Vaters dicht an seinem Ohr. »Ich binâs nur.« Seine Arme schlieÃen sich fest um Nathaniel, so daà er zu zittern aufhört. Nathaniel schlieÃt die Augen, und zum ersten Mal, seit er an diesem Abend im Bett liegt, sieht er das Küken nicht mehr.
Unmittelbar bevor wir am nächsten Tag Dr. Robichauds Büro betreten, bin ich plötzlich voller Hoffnung. Was, wenn sie zu dem Schluà gelangt, daà sie Nathaniels Verhalten fehlinterpretiert hat? Was, wenn sie sich entschuldigt und die Akte unseres Sohnes mit einem dicken, roten FEHLDIAGNOSE abstempelt? Doch als wir hineingehen, gesellt sich noch eine weitere Person dazu, und schon zerplatzt mein Wunschtraum wie eine Seifenblase. In unserem kleinen York County könnte ich nicht in KindesmiÃbrauchsfällen die Anklage vertreten, ohne Monica LaFlamme zu kennen. Ich habe nichts gegen sie persönlich, bloà gegen ihre Dienststelle. Bei uns im Büro bezeichnen wir das Jugendamt wahlweise als
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