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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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angetan, Patrick«, flüstert Nina und bricht vor seinen Augen zusammen. »Irgend jemand, und ich … weiß nicht, wer.«
    Ein Beben grollt in seiner Brust. »Nathaniel?«
    Patrick hat Eltern mitgeteilt, daß ihre jugendlichen Kinder angetrunken bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Er hat Witwen am Grab ihrer durch Selbstmord gestorbenen Ehemänner gestützt. Er hat sich die Geschichten von Frauen angehört, die eine Vergewaltigung überlebt hatten. Man kann das nur durchstehen, wenn man sich innerlich distanziert. Aber hier … hier gibt es keine Distanz.
    Patrick spürt, daß sein Herz zu groß für seine Brust wird. Er sitzt neben Nina auf dem Küchenboden, während sie ihm die Einzelheiten einer Geschichte erzählt, die er nie hören wollte. Ich könnte zurück durch diese Tür gehen , denkt er, und noch mal neu anfangen. Ich könnte die Zeit zurückdrehen .
    Â»Er kann nicht sprechen«, sagt Nina. »Und ich weiß nicht, wie ich ihn dazu bringen soll.«
    Patrick hält sie auf Armeslänge von sich weg. »O doch, das weißt du. Du bringst ständig Leute dazu, mit dir zu reden.«

    Als Caleb am Tag, nachdem sein Sohn aus Gründen, die er nicht glauben will, verstummt ist, aus dem Haus tritt, erkennt er, daß sein Zuhause Reparaturen nötig hat. Ein paar Dinge hätten schon vor einer Ewigkeit erledigt werden müssen – der Steinpfad vor dem Haus, der Abschluß oben am Kamin, das kniehohe Mäuerchen, das das Grundstück umrandet –, all diese Arbeiten sind liegengeblieben, weil stets andere, von Kunden bezahlte, Vorrang hatten. Er stellt seine Kaffeetasse auf das Verandageländer und geht die Stufen hinunter, um alles in Augenschein nehmen.
    Der Steinpfad kann warten, das würde nur ein Fachmann merken, wie uneben die Steine sind. Vom Schornstein bröckelt die gesamte linke Seite ab. Aber so spät am Nachmittag noch aufs Dach zu steigen wäre sinnlos, und außerdem sollte man Arbeiten in solcher Höhe nicht ohne Hilfe durchführen. Also wendet Caleb sich zunächst dem Mäuerchen entlang der Straße zu.
    Die Steine liegen noch immer an der Stelle gestapelt, wo er vor fast einem Jahr aufgehört hat. Es sind alles gebrauchte Ziegel, und sie kommen aus ganz New England – von abgerissenen Fabriken und alten Krankenhäusern, zerfallenden Kolonialhäusern und leerstehenden Schulgebäuden. Caleb mag ihre Kerben und Narben. Er stellt sich vor, daß in dem porösen roten Ton noch alte Geister stecken – oder Engel. Als Hüter seines Hauses wären ihm beide recht.
    Zum Glück hat er schon tief gegraben, bis unter die Frostlinie. Eine fünfzehn Zentimeter tiefe Schotterschicht liegt in der Erde. Caleb nimmt einen Sack Zement und kippt ihn in die Schubkarre, die er zum Anrühren benutzt. Mischen und durchziehen, einen Rhythmus finden, während das Wasser sich mit Sand und Zement verbindet. Er spürt, wie er von dem Rhythmus erfaßt wird, sobald er die erste Reihe Steine legt, sie in den Zement setzt, bis sie richtig liegen – wenn er so wie jetzt mit seinem ganzen Körper arbeitet, wird sein Geist weit und klar.
    Es ist sein Handwerk, und es ist wie eine Sucht. Er bewegt sich am Mauerfuß entlang, arbeitet mit Anmut. Diese Mauer soll nicht massiv werden. Sie wird zwei glatte Außenwände haben, die von einer Betonhaube gekrönt werden. Keiner wird ahnen, daß der Mörtel auf der Innenseite rauh und häßlich verschmiert ist. An den Stellen, die man nicht sehen kann, muß Caleb nicht sorgfältig arbeiten.
    Er greift nach einem Ziegel, und seine Finger berühren etwas Kleineres, Glatteres. Ein Plastiksoldat. Als er das letzte Mal hier arbeitete, war Nathaniel mit ihm gekommen. Während Caleb den Graben aushob und mit Schotter füllte, hatte sein Sohn ein Bataillon in der Festung aus umgefallenen Ziegeln versteckt.
    Nathaniel war drei. »Ich mach dich fertig«, hatte er gesagt, und mit dem Soldaten auf Mason, den Golden Retriever, gezielt.
    Â»Wo hast du das denn gehört?« hatte Caleb lachend gefragt.
    Â»Irgendwo mal«, hatte Nathaniel altklug geantwortet, »ganz früher, als ich noch ein Baby war.«
    So lange ist das schon her , hatte Caleb gedacht.
    Jetzt hält er den Plastiksoldaten in der Hand. Der Strahl einer Taschenlampe kommt den Weg heruntergehüpft, und Caleb merkt erst jetzt, daß die Sonne

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