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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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er nicht erklären konnte.

    Nina hat Patrick einmal erzählt, daß sie oft an Nathaniels Bettchen gestanden und ihm beim Schlafen zugeschaut hat. Es ist faszinierend , hatte sie gesagt. Unschuld unter einer Decke . Jetzt versteht er das. Wenn man Nina schlafen sieht, käme man niemals darauf, was nur zwei Stunden zuvor geschehen ist. Dieser glatten Stirn sähe niemand an, was für Gedanken sich dahinter verbergen.
    Patrick dagegen fühlt sich hundeelend. Er bekommt nicht mehr richtig Luft. Sein Magen schnürt sich bei jedem Schritt zusammen. Und jedesmal, wenn er in Ninas Gesicht blickt, weiß er nicht, was ihm lieber wäre: daß sie heute Morgen einfach den Verstand verloren hat … oder nicht.

    Sobald sich die Tür öffnet, bin ich hellwach. Ich fahre auf der Pritsche hoch, und meine Hände stützen sich auf die Jacke, die Patrick mir als Kissen gegeben hat. Sie ist aus Wolle, kratzig. Sie hat Druckspuren auf meiner Wange hinterlassen.
    Ein Polizist, den ich nicht kenne, steckt den Kopf herein. »Lieutenant«, sagt er förmlich, »wir brauchen jetzt Ihre Aussage.«
    Klar. Auch Patrick hat es gesehen.
    Die Augen des Polizisten sind wie Insekten auf meiner Haut. Als Patrick zur Tür geht, stehe ich auf, halte mich an den Gitterstäben der Zelle fest. »Finde raus, ob er tot ist, ja? Bitte. Ich muß es wissen. Ich muß einfach. Ich muß wissen, ob er tot ist.« Meine Worte sind wie Schläge auf Patricks Rücken. Er sieht mich nicht an, als er die Tür öffnet und hinausgeht.
    Durch den Türspalt gewinne ich für einen Moment einen Eindruck von der Hektik, die Patrick mir während der letzten paar Stunden verschwiegen hat. Der Spezialtransporter der Polizei, der nicht nur die erforderlichen Utensilien für die Ermittlungen, sondern auch die Fachleute an den Tatort bringt, muß inzwischen eingetroffen sein. Im Gerichtssaal wimmelt es nur so von Cops. Einer tritt beiseite, und ich sehe einen leuchtendroten Fleck, der eine ausgestreckte, blasse Hand umgibt. Noch während ich hinsehe, beugt sich ein Fotograf nach unten und hält das Spritzmuster des Blutes mit der Kamera fest. Mein Herz krampft sich zusammen. Und ich denke: Das hab ich getan; das hab ich getan .

    Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß Quentin Brown nicht gerne Auto fährt, schon gar nicht lange Strecken und erst recht nicht von Augusta nach York County. Bereits in Brunswick ist er der festen Überzeugung, daß er mit seinen ein Meter fünfundneunzig in dem winzigen Ford zum Krüppel wird. Aber als stellvertretender Generalstaatsanwalt muß er dorthin, wo er gebraucht wird. Und wenn jemand in Biddeford einen Priester umlegt, dann muß Quentin Brown eben nach Biddeford.
    Quentin Brown ist eine beeindruckende Erscheinung. Wegen seines geschorenen Kopfes, seiner Körpergröße und seiner in dem blütenweißen Anzug um so wirkungsvolleren Hautfarbe, halten ihn die meisten Leute entweder für einen Kriminellen oder für den Talentscout eines Basketballvereins. Aber Anwalt? Ein schwarzer Anwalt? Nie und nimmer.
    Die juristische Fakultät der University of Maine, wo überwiegend Weiße studieren, bemüht sich verstärkt um schwarze Studenten. Und viele kommen, wie Quentin; aber fast alle gehen auch wieder, anders als Quentin. Seit zwanzig Jahren marschiert er nun schon in irgendwelche Gerichtsgebäude in namenlosen Kleinstädten und verblüfft die Verteidiger, die jemand – oder etwas – anderes erwarten. Und – das ist Quentin nur recht.
    Wie immer teilt sich die Menge vor ihm, als er das Bezirksgericht von Biddeford betritt. Er geht zu dem Gerichtssaal, deren Türen mit Polizeiband abgesperrt sind, und dann den Mittelgang hinunter, bis ganz nach vorn. Quentin registriert sehr wohl, daß alle Bewegungen langsamer werden und das Stimmengewirr erstirbt, als er sich über den Toten beugt. »Für eine Verrückte«, murmelt er anerkennend, »war sie verdammt treffsicher.« Dann beäugt Quentin den Cop, der ihn anstarrt wie einen Marsmenschen. »Was ist los?« sagt er trocken. »Noch nie einen ein Meter fünfundneunzig großen Mann gesehen?«
    Ein Detective kommt auf ihn zu, bemüht sich darum, autoritär zu wirken. »Kann ich Ihnen helfen?«
    Â»Quentin Brown. Von der Generalstaatsanwaltschaft.« Er reicht ihm die Hand.
    Â»Evan Chao«, sagt der Detective und versucht, seine

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