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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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und paßt gar nicht richtig auf die Bank. Meine Augen nehmen alles und nichts zugleich wahr.
    Â»Können wir mit dem Anklageeröffnungsverfahren in der Sache ›der Staat gegen Szyszynski‹ beginnen?« fragt der Richter.
    Thomas erhebt sich schwungvoll. »Ja, Euer Ehren.«
    Am Tisch der Verteidigung erhebt sich auch der Verteidiger. »Ich vertrete Pater Szyszynski, und wir sind bereit, Euer Ehren.«
    Ich habe es schon tausendmal gesehen: Ein Gerichtsdiener tritt vor die Richterbank. Er tut das, um den Richter zu schützen. Schließlich sind die Menschen, die als Angeklagte hereingeführt werden, Kriminelle. Da ist alles möglich.
    Die Tür zur Verwahrzelle öffnet sich, und der Priester wird herausgeführt. Seine Hände sind vor dem Körper mit Handschellen gefesselt. Ich spüre, daß Caleb neben mir das Atmen vergißt. Ich halte meine Handtasche auf dem Schoß, eine tödliche Umklammerung.
    Der zweite Gerichtsdiener führt den Priester an den Tisch der Verteidigung, zu dem Stuhl, der innen steht, weil er sich vor dem Richter erheben muß, um sich schuldig oder unschuldig zu erklären. Er ist mir jetzt so nahe, daß ich ihn anspucken könnte. Ich könnte ihm etwas zuflüstern, und er würde mich vielleicht hören.
    Meine Augen wandern zunächst zum Richter, dann zu den Gerichtsdienern. Auf die muß ich achten. Sie stehen hinter dem Priester, sorgen dafür, daß er sich hinsetzt.
    Geht zurück. Geht zurück geht zurück geht zurück.
    Ich schiebe meine Hand in die Tasche, vorbei an den vertrauten Dingen, hin zu der Hitze, die mir in die Hand springt. Der Gerichtsdiener macht einen Schritt nach hinten – dieser Angeklagte, dieser Abschaum, hat noch immer das Recht, sich ungestört mit seinem Anwalt zu besprechen. Wörter fliegen durch den Saal wie kleine Insekten, Ablenkungen, die ich kaum registriere.
    In der Sekunde, als ich mich erhebe, bin ich von der Klippe gesprungen. Die Welt saust in einem Nebelschleier aus Farbe und Licht an mir vorbei; dann denke ich: Fallen ist der erste Schritt, um das Fliegen zu lernen .
    Mit zwei Schritten durchquere ich den Gang des Gerichtssaales. Einen Atemzug später halte ich dem Priester die Waffe an den Kopf. Ich drücke viermal ab.
    Der Gerichtsdiener packt meinen Arm, aber ich lasse die Waffe nicht los. Ich kann nicht, ehe ich nicht weiß, daß ich es getan habe. Ich sehe Blut spritzen, höre Schreie, und dann falle ich wieder, vorwärts, über das Geländer, wo ich hingehöre. »Hab ich ihn erwischt? Ist er tot?«
    Sie pressen mich auf den Boden, und als ich die Augen öffne, kann ich ihn sehen. Der Priester liegt nur einen Meter von mir entfernt, und sein halber Kopf ist verschwunden.
    Ich lasse die Waffe los.
    Das Gewicht auf mir nimmt vertraute Formen an, und dann höre ich Patrick in meinem Ohr. »Nina, hör auf. Hör auf, dich zu wehren.« Seine Stimme holt mich zurück. Ich sehe den Verteidiger, der sich unter dem Tisch des Gerichtsschreibers versteckt. Pressekameras blitzen wie ein ganzes Feld voller Glühwürmchen. Der Richter hat den Notfallknopf auf seinem Tisch gedrückt und befiehlt brüllend, den Saal zu räumen. Und Caleb, weiß wie Schnee, fragt sich, wer ich bin.
    Â»Hat jemand Handschellen?« fragt Patrick. Ein Gerichtsdiener zieht welche aus seinem Gürtel und reicht sie ihm. Patrick fesselt mir die Hände auf den Rücken. Er hebt mich hoch und schiebt mich auf dieselbe Tür zu, durch die der Priester hereingekommen ist. Patricks Körper ist unnachgiebig, sein Kinn liegt fest an meinem Ohr. »Nina«, flüstert er, »was hast du getan?«
    Einmal, vor nicht allzu langer Zeit bei mir zu Hause, hatte ich Patrick dieselbe Frage gestellt. Jetzt gebe ich ihm dieselbe Antwort, die er mir damals gab. »Ich habe getan, was nötig war«, sage ich und glaube es selbst.

II

    Einmal Zweifeln
    Macht mit eins entschlossen.
    Shakespeare, Othello

Im Ferienlager zirpen die Grillen, und manchmal ist es dort so grün, daß mir die Augen weh tun.
    Ich hab Angst hier, weil wir so viel draußen sind und weil es draußen Bienen gibt. Wenn ich Bienen nur sehe, fühlt sich mein Bauch wie eine Faust an.
    Meine Mutter hat den Betreuern gesagt, daß ich Angst vor Bienen habe. Sie sagen, daß in all den Jahren noch kein einziges Kind gestochen worden ist.
    Ich denke, einer muß ja der erste sein.
    Eines

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