Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Francescos Leben gegeben hatte?
Lorenzo sinnierte darüber nach, wie merkwürdig es doch war, dass er geglaubt hatte, seinen Onkel wesentlich besser zu kennen als seinen Vater. Dabei wusste er im Grunde über beide nicht viel.
Bisher hatte er nicht einmal eine Ahnung davon, womit sein Vater sich beschäftigte, wenn er im Dogenpalast arbeitete.
»Komm doch bitte heute einmal mit, mein Junge!« – Diese Einladung von Giovanni war völlig unerwartet gekommen und hatte Lorenzo klargemacht, wie wenig Anteil er am Leben seines Vaters hatte.
»Es wird Zeit, dass du deine Nase einmal da hineinsteckst, wo alle Fäden in der Serenissima zusammenlaufen: die Politik.«
Venedig, so hatte sein Vater ihm erklärt, gründete seine Macht nicht nur auf Ruder und Segel, sondern auch – und das an erster Stelle – auf die Diplomatie.
Die Pfeiler dieser Macht waren hier verankert, im Herzen der Stadt, in diesem gewaltigen Steinklotz, der mit seinen wuchtigen Flügeln die Basilika mit dem kostbarsten Gut der Stadt, die Markusreliquie, gegen die offene Lagune abschirmte. Der Palazzo Ducale war nicht nur der Amts- und Wohnsitz des Dogen, sondern gleichzeitig auch Verwaltungszentrale, Regierungsgebäude, Waffenarsenal, Archiv, Gefängnis, Schatzkammer und Gerichtsstätte.
Der Eingang an der Südseite war von Arbeitern versperrt, die auf ihren Schultern oder auf Karren Baumaterial durch den Säulengang in das Gebäude schleppten. Nach dem verheerenden Brand vor sieben Jahren waren die Erneuerungsarbeiten am Dogenpalast immer noch nicht abgeschlossen.
Lorenzo und sein Vater durchschritten die Arkaden und umrundeten den Palazzo, bis sie die zur Piazetta hin gelegene Porta della Carta erreicht hatten.
Über dem Türsturz der von marmornem Zierrat überquellenden Fassade thronte der allgegenwärtige Markuslöwe, und vor ihm kniete ein Doge aus vergangenen Jahrzehnten, eine bezeichnende Allegorie auf die wirkliche Verteilung der Macht: der Herrscher als demütiger Diener der Serenissima. Flankiert war das Paar von ernst dreinschauenden Skulpturen der Tugenden, Tapferkeit, Bescheidenheit, Klugheit und Liebe, die auf beiden Seiten des Ziergiebels die Wände schmückten.
Lorenzo und Giovanni passierten den Durchgang und gelangten in den Hof des Palastes. Nach der drückenden Augusthitze, die sich schon seit dem frühen Morgen in den Gassen und Kanälen staute, war es hier wohltuend kühl.
Am Fuß der gewaltigen Prachttreppe, im Übergangsbereich zu einem weiteren, kleineren Innenhof, unterhielten sich zwei Männer. Einer davon blickte verdutzt auf, als er sie näherkommen sah.
»Messèr Lorenzo, seid Ihr das etwa? Mein lieber Junge, was seid Ihr groß geworden!«
»Meister Lombardo!«, rief Lorenzo überrascht und erfreut. Er eilte dem Mann entgegen und schüttelte ihm die Hand.
Lombardo war um einige Jahre gealtert, aber unverkennbar derselbe energiegeladene, gestenreiche Baumeister wie ehedem. Er verneigte sich höflich vor Giovanni, bevor er den Mann vorstellte, der neben ihm stand. »Meister Bellini. Der größte Maler der Serenissima.«
Der untersetzte, grauhaarige Maler machte keine Anstalten, dieses Lob zu entkräften. Hochmütig nickte er den Patriziern zu, als sei er ihnen nicht nur vom Rang her ebenbürtig, sondern sogar weit überlegen.
»Ich habe Euer Madonnen-Triptychon in der Kapelle der Pesaros gesehen«, sagte Giovanni. »Wo nehmt Ihr nur all das Talent her, Meister Bellini?«
Der Maler zuckte mit den Achseln, als sei er bereits mit seiner Kunst auf die Welt gekommen.
»Habt Ihr noch viele Häuser gebaut?«, fragte der Baumeister lächelnd seinen jungen Schützling von damals.
»Leider keines mehr. Dafür habe ich viele Länder bereist und das Handelsgeschäft erlernt.«
»Daran habt Ihr Recht getan. Reisen – das ist ein schöner Traum, den ich mir leider nicht erfüllen kann. Es gibt immer zu viel zu tun.« An Giovanni gewandt, fügte er hinzu: »Ich hoffe, Ihr fühlt Euch immer noch in Eurem Palazzo wohl.«
»Aber selbstverständlich, Meister Lombardo! Es ist ein wunderbares Zuhause!«
Als sie nach der höflichen Verabschiedung ihren Weg fortsetzten, dachte Lorenzo, wie gut sein Vater doch lügen konnte. Aber gleich darauf zog er diese Beurteilung in Zweifel. Warum hielt er es für eine Lüge? Vielleicht war er, Lorenzo, in der Ca’ Caloprini der Einzige, der sich dort fehl am Platze fühlte.
»Dieser Mensch sieht nicht weiter als bis zu seiner eigenen Pinselspitze«, meinte Giovanni
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