Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
»Ganz sicher hat er keine Wasserhühner in der Lagune gejagt, sondern ein größeres Wild. Sonst hätten sie ihn nicht in Fesseln gelegt und verprügelt.«
»Was geschieht jetzt mit ihm?«
»Er wird einem Richtergremium vorgeführt, das den Fall untersucht, während man sich an übergeordneter Stelle bereits darüber Gedanken macht, wie alles geregelt werden kann.«
»Was meinst du mit geregelt ?«
Giovanni zuckte die Achseln. »Er wird über Nacht eingesperrt, dann kann er nach Hause gehen. Das ist das Privileg des Adels, mein Junge. So halten wir es schon seit Jahrhunderten, und es funktioniert hervorragend.«
»Aber …«
»Er ist der Sohn eines Zehnerrats. Genau wie du.«
Lorenzo wollte aufbegehren, doch dann schwieg er lieber. Sein Vater hatte ihm nichts Neues mitgeteilt. Es war kein Geheimnis, dass die Söhne der Nobili in der Stadt weitgehend Narrenfreiheit genossen. Die meisten Straftaten wurden kaum je geahndet. Hin und wieder kam es vor, dass der öffentliche Druck zu stark wurde, vor allem, wenn die Opfer dieser jungen Bravi di Calze ebenfalls aus den Kreisen des Adels stammten. Dann griff die Signoria zu härteren Maßnahmen, bis hin zur Todesstrafe, die aber in den meisten Fällen heimlich vollzogen wurde, sei es durch Ertränken in der Lagune oder durch Strangulation in einer der Gefängniszellen im Keller des Gebäudes. Nur in schlimmeren Mordfällen, etwa in Verbindung mit Sodomie, kam es zur öffentlichen Anklage und zur Hinrichtung zwischen den Säulen, was nicht nur der Abschreckung, sondern auch zur Demonstration dafür dienen sollte, dass der Adel sich in Fragen der Gerechtigkeit nicht über das gemeine Volk stellte. Eine geschickt eingesetzte dosierte Beschwichtigung.
Lorenzo folgte seinem Vater einen weiteren Gang entlang, bis Giovanni stehen blieb und die Tür zu einem eher schmucklosen und nicht allzu großen Amtszimmer aufstieß, einem Raum mit zwei schmalen Fenstern und mehreren Wandborden, die mit Schriftstücken überladen waren. »Dies ist das Amtszimmer, das ich mit meinem Zehnerrat-Kollegen teile. Mein lieber Sohn, tritt vor und zeige dich dem ehrenwerten Zehnerrat Grimani und unserem Assistenten, Messèr Sagredo.«
Betroffen musterte Lorenzo den Mann, der hinter einem polierten, erhöht stehenden Eichentisch saß, vor sich einen Stapel nachlässig ausgebreiteter Dokumente. Mit keinem Zeichen ließ der Patrizier erkennen, dass er von der Verhaftung seines ältesten Sohnes wusste. Auf seinem fülligen, aber immer noch gut aussehenden Gesicht stand ein freundlicher Ausdruck, und seine Haltung wirkte entspannt. Doch als Lorenzo nähertrat, um ihn zu begrüßen, erkannte er die hektischen roten Flecken auf den Wangen Grimanis, und er sah, dass auf dem Pergament, das vor ihm lag, ein Tintenfass umgefallen war. Die Tinte war über den Tisch verlaufen und tropfte von den Rändern auf den Boden. Mit einer zerstreuten Geste zog der Zehnerrat sein Halstuch herunter und tupfte die Pfütze vom Tisch, während er sich erhob und Lorenzo anstrahlte. »Lasst Euch ansehen, Junge. Wie Ihr gewachsen seid! Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Vor zwei Jahren oder vor drei?«
Es war vor vier Jahren gewesen, bei der öden Feierlichkeit anlässlich der Vermählung der ältesten Grimani-Tochter. Sie war lange Zeit eine der Kandidatinnen gewesen, die Lorenzos Eltern als ehewürdig für ihren eigenen Sohn erachtet hatten, doch dieses Thema war zum Glück vom Tisch. Lorenzo hatte schon vor Jahren kategorisch erklärt, dass er nur aus eigenem Willen heraus heiraten würde. In Wahrheit hatte er überhaupt nicht vor, zu heiraten, doch sein Onkel hatte ihm geraten, seinen Eltern gegenüber mit dieser erschreckenden Wahrheit lieber noch ein paar Jahre hinterm Berg zu halten.
»Es wurde Zeit, dass Euer Vater Euch einmal mit herbringt. Ihr seid jetzt zweiundzwanzig, genau im richtigen Alter. Wir brauchen dringend geschulten Nachwuchs auf dem größten Schlachtfeld der Welt. Dem einzigen, wo der Krieg niemals endet – und die Helden nicht fallen.« Giorgio Grimani legte das mit Tinte vollgesogene Tuch beiseite. »Lorenzo – ich darf Euch doch beim Vornamen nennen? Ich weiß noch, wie Ihr jauchztet, als ich Euch in die Luft warf. Da wart Ihr zwei.«
Lorenzo erinnerte sich natürlich an nichts dergleichen und konnte sich den leicht übergewichtigen, eher manieriert wirkenden Zehnerrat auch kaum bei einer so profanen Verrichtung vorstellen, doch wen scherte das schon. Er nickte gleichgültig
Weitere Kostenlose Bücher