Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
abfällig. »Ohne seinen Meister Mantegna wäre er nichts. Und was viel ärger ist: Er erkennt nicht, dass in seiner Werkstatt mit Carpaccio ein Talent herangewachsen ist, das mindestens ebenso wie er selbst zum Ruhm der Kunst beitragen wird.«
Lorenzo fragte sich, ob dies ein Bestandteil der Diplomatie war: Menschen Honig um den Bart zu streichen und dann, wie gerade sein Vater, hinter ihrem Rücken zu sagen, was man wirklich über sie dachte.
Vermutlich ja.
Und was die Malerei betraf: Lorenzo war kein Kunstbanause, aber sein Interesse galt, wenn überhaupt, eher der in seinen Augen handfesteren Kunst: der Architektur. Die Kohleskizzen von Meister Leonardo hatten ihn begeistert, aber mit Gemälden konnte er nicht viel anfangen. Ölbilder, so fand er, waren ähnlich wie Gobelins. Sie waren bunt, gefällig und glänzend. Frauen hängten sie auf, um sich in ihrem Wohnbereich wohler zu fühlen, und Priester oder Adlige, um ihre Gebetsstätten zu schmücken.
»Woran denkst du, mein Sohn?«
»An Politik.«
»Das freut mich. Du wirst nämlich bald eine ganze Menge darüber lernen. Und du wirst ebenso begeistert davon sein wie ich, das kann ich dir jetzt schon versprechen.« Er blieb mitten auf der großen Freitreppe stehen und machte eine ausholende Geste über die Prunkbogenarchitektur des großen Innenhofes und die Stufen, die ins erste Obergeschoss führten. »Diese Treppe hier führt zum Zentrum der Macht in unserer Stadt. Dort oben wird die Serenissima regiert. Hier werden die Geschicke einer Weltmacht gelenkt. Die Treppe ist mehr als ein Symbol für den Weg nach oben, sie ist ein Stück lebendige Geschichte. Viele Dutzend Herrscher sind hier emporgestiegen, um den ihnen angestammten Platz im Palast einzunehmen. Wenn sie diese Stufen erklimmen, gibt es für sie keinen Weg zurück. Sie tragen die Dogenkrone bis an ihr Ende, in Macht und Pflicht.« Er zeigte auf die säulengestützte Empore oberhalb der Treppe. »Schau, da oben auf dem Podest fand vor fünf Jahren erstmalig an dieser Stelle die Dogenkrönung statt. Du hättest es dir ansehen sollen, es war ein denkwürdiges Ereignis.«
Lorenzo erinnerte sich, dass er zu jener Zeit mit Francesco eine Handelsreise nach Hamburg unternommen hatte. Das war zweifellos wesentlich spannender gewesen als jede noch so prächtige Krönungszeremonie, zumal der Doge schon im Jahr darauf in einer weiteren, mindestens ebenso prächtigen Feier von einem neuen Herrscher abgelöst worden war, von dem ihm außer dem Namen – Agostino Barbarigo – bisher nur zu Ohren gekommen war, dass er Gelder veruntreute.
Mit einem Mal fragte er sich, wozu dieser Besuch hier wohl führen sollte. Er fand es jetzt schon so langweilig, dass er am liebsten sein Messer herausgezogen und ein paar Wurfübungen veranstaltet hätte. Oder er hätte den letzten Brief von Sanchia noch einmal lesen können, dabei hätte er sich gewiss weit besser unterhalten als hier.
Im Ostflügel, wo überall noch Bauarbeiten im Gange waren, führte eine weitere Prachttreppe nach oben, zu den privaten Räumen des Dogen im zweiten und den Amts- und Empfangsräumen der Signoria im dritten Stockwerk.
Er folgte seinem Vater durch endlos scheinende Gänge, in denen er sich allein vermutlich nach kürzester Zeit verlaufen hätte. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt, der Boden mit Terrazzo gefliest. Gemälde, prachtvoll geschnitzte Säulen und kostbare Bodenbeläge bestimmten das Bild in diesem Bereich des Gebäudes.
Hier und da taten sich Türen zu Sälen oder kleineren Zimmern auf, und gewichtig aussehende Männer in dunklen oder roten Amtsroben begegneten ihnen. Die meisten verneigten sich vor Giovanni Caloprini, der sämtliche Gesten der Ehrerbietung mit freundlichem Lächeln erwiderte.
Einfacher gekleidete Verwaltungsdiener trugen Aktenstücke vorüber, und einmal kreuzte ein Trupp Bewaffneter, die einen gefesselten Gefangenen vor sich herstießen, ihren Weg.
Überrascht erkannte Lorenzo in dem Häftling Enrico Grimani. Sein rechtes Auge war blau geschlagen, und aus seinen Mundwinkeln lief Blut. Seine elegante Kleidung war zerrissen und schmutzig. Als er Lorenzo und seinen Vater sah, spuckte er aus und drehte wütend den Kopf zur Seite, als einer der Bewaffneten ihn deswegen anbrüllte und ihm den Griff seines Spießes in die Seite hieb.
»Was hat er getan?«, fragte Lorenzo seinen Vater, nachdem der Trupp weitergezogen war.
»Wahrscheinlich etwas ziemlich Schlimmes«, sagte Giovanni desinteressiert.
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