Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Wirkung. Sie rückte ihren wollenen Rock zurecht und ging zur Tür. »Ich komme später wieder. Ach, und noch etwas. Außer mir und Messèr Sagredo weiß niemand von der Sache. Den anderen habe ich erzählt, Ihr leidet unter einer schweren Magenverstimmung. Nur, damit Ihr wisst, was Ihr sagen müsst, wenn Fragen kommen.«
Unten in der kleinen Eingangshalle traf sie auf Sagredo, der auf sie gewartet hatte.
»Sie wird doch wieder ganz gesund, oder?«, fragte er besorgt.
Sie nickte mit abgewandtem Gesicht. Er streckte die Hand aus und umfasste ihr Kinn.
»Was ist mit Euch, Piccina? Ihr seht so traurig aus!«
Als er sie bei diesem altvertrauten Kosenamen nannte, zuckte etwas in ihr auf, doch bevor es sich herausbilden und stärker werden konnte, war es auch schon wieder verschwunden.
»Nichts. Es geht mir gut.«
»Für Euer jugendliches Alter seid Ihr eine unglaublich tüchtige Krankenpflegerin. Es heißt, dass Ihr manchen Arzt in den Schatten stellt, und heute konnte ich mich selbst davon überzeugen. Annunziata und ich sind Euch zu höchstem Dank verpflichtet.«
»Was ich getan habe, war nicht viel. Nicht annähernd so viel, wie die Äbtissin für mich getan hat. Und davor ihre Schwester. Ich bin stolz und glücklich, dass ich wenigstens einen Bruchteil davon vergelten konnte.«
»Ihr seht aber nicht stolz und glücklich aus. Eher nach dem Gegenteil.«
Sanchia zwang sich zu einem Lächeln. »Das scheint nur so.«
»Ich sehe dich oft bei den Tauben. Du hast große Sehnsucht, nicht wahr?«
Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen glühten. »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet. Meine Welt ist San Lorenzo.« Sie stolperte plötzlich über den Namen, denn zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass dies auch sein Name war. Wenn irgend möglich, wurde sie noch verlegener. Hastig zog sie sich zur Pforte zurück. »Ich muss fort.«
»Ja«, sagte er leise und schaute ihr nach. »Ja, das musst du wohl.«
In den folgenden Wochen holte sie oft die gläserne Taube aus ihrer Schatulle und hielt sie in den Händen. Kühl und glatt, den schmalen Kopf elegant zur Seite geneigt, ruhte die kleine Kostbarkeit zwischen ihren Fingerspitzen, und Sanchia stellte sich vor, der durchsichtige Leib bestünde aus Myriaden von Tränen, geronnen und in Glas erstarrt, für immer eingefangen in diesem zerbrechlichen Körper, dem letzten Geschenk ihres Vaters.
Der Winter hielt Einzug und mit ihm die Kälte, die über die bloßen Temperaturen hinaus nicht nur die Haut, sondern auch die Seele auskühlte. Die überall explodierenden Karnevalsfeierlichkeiten trieben die wintermüden, durchgefrorenen Menschen tagein, tagaus in den Gassen und auf den Plätzen zusammen und peitschten sie stundenweise zu Hochstimmung auf, bis sie am nächsten Morgen verkatert und zerschlagen zu sich kamen, unter einem grauen Himmel und von stinkenden Gewässern umgeben.
Im Dezember kam es in der Umgebung von San Lorenzo zu etlichen schweren Fällen von Cholera, was dazu führte, dass Annunziata für mehrere Wochen eine strenge Ausgangssperre über die Bewohnerinnen des Klosters verhängte. Sanchia musste sich ebenfalls dieser Anordnung fügen, es war ihr untersagt, die Kranken im Sestiere zu besuchen, solange die Seuche grassierte.
Seit der Abtreibung hatte die Äbtissin sich verändert. Nicht nur, dass sie an Gewicht verloren und etliche graue Haare bekommen hatte; ihr volltönendes, herzhaftes Lachen war kaum noch zu hören, und die Feste, die sie sonst immer mit ihren Freunden und dem Obsthändler im Besucherzimmer gefeiert hatte, fanden nicht mehr statt. Stattdessen zog sie sich häufig in die Abgeschiedenheit ihres Wohnhauses zurück und trank mehr, als ihr gut tat. Jacopo Sagredo tauchte hin und wieder auf, aber seine Besuche waren seltener geworden.
Von Lorenzo kamen in der Zeit von November bis Januar keine Briefe mehr. Sanchia ging immer noch täglich zum Schlag, aber insgeheim hatte sie sich damit abgefunden, dass die Tauben tot waren. Es hieß, dass Brieftauben bis zu zwanzig Jahre oder sogar älter werden konnten, das weiße Pärchen hätte also noch lange Zeit fliegen können. Doch die Gefahren, die zwischen Himmel und Erde lauerten, ließen vermutlich selten eine so lange Lebensspanne zu.
Blieb ihr also nur die Hoffnung, dass wenigstens Lorenzo nichts passiert war.
In der Zeit der Ausgangssperre ging sie wieder häufiger ins Scriptorium und widmete sich ihren Aufzeichnungen sowie neuer Lektüre. Durch die fortschreitende Ausbreitung des
Weitere Kostenlose Bücher