Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Hause.
Sanchia konnte für beide Frauen nicht viel tun. Bei der Patientin mit dem gebrochenen Bein salbte sie die schmerzende Hüfte mit einer Kräuterpaste ein, und der anderen Kranken ließ sie eine kleine Portion Mohnextrakt da.
Deprimiert kehrte sie anschließend ins Kloster zurück und dachte nicht zum ersten Mal daran, wie privilegiert sie doch war. Dank der mit Gold gefüllten Schatulle ihres Vaters durfte sie in einer Umgebung leben, in der die Schwachen, Alten und Kranken stets aufs Beste versorgt waren. Statt sich in die Welt hinauszusehnen, sollte sie lieber ein Dankgebet sprechen.
Doch sie dachte nicht mehr ans Beten, als sie am nächsten Nachmittag rechtzeitig vor der Vesper zur Lichtmessprozession aufbrach.
Eleonora hatte sich geweigert, mitzukommen, denn Pasquale war noch nicht aufgetaucht. Im Laufe des Tages war der Ausdruck von Hoffnungslosigkeit in ihren Augen immer stärker geworden, doch als Sanchia sie zum Mitkommen aufgefordert hatte, hatte sie dieses Ansinnen verärgert abgelehnt. Mit erhobenem Kopf hatte sie Sanchia angefunkelt, Herkules im einen und die Torte im anderen Arm. »Wenn er sagt, dass er kommt, dann kommt er auch. Ich weiß, was sich für einen nahen Freund ziemt. Ich warte hier mit dem Kuchen auf ihn.«
Herkules untermalte diesen Beschluss mit einem piepsigen Kläffen.
Sanchia fand nicht unbedingt, dass Pasquale ein naher Freund Eleonoras war, doch es fügte sich ausgezeichnet, dass diese das offenbar anders beurteilte. Sie dankte Pasquale insgeheim für seine Saumseligkeit und schämte sich gleichzeitig, weil sie so erleichtert war, dass Eleonora nicht mitkommen wollte. Die Täuschung ging immer weiter und nahm fürchterliche Ausmaße an, aber sie wusste nicht, wie sie es anders handhaben sollte.
Ein weiteres Problem tat sich auf, als sie Moses nicht in seiner Kammer antraf. Sanchia war davon ausgegangen, dass Pasquale als männlicher Begleiter mit von der Partie sein würde und hatte sich daher nicht vergewissert, ob Moses im Zweifelsfall zur Verfügung stand. Ein dummes Versäumnis, wie sich nun herausstellte, denn er war schon mit anderen Ausflüglern unterwegs.
Sie konnte problemlos allein aufbrechen, es war nur ein kurzer Spaziergang von San Lorenzo bis zum Campo Santa Maria Formosa. Doch zuvor musste sie an Girolamo vorbei.
Zum Glück stellte sich wenigstens das als einfach heraus. Sie erzählte ihm, dass Eleonora einen köstlichen Mandelkuchen gebacken hatte, von dem ein Stück in der Küche auf ihn wartete. Das war nicht einmal gelogen, denn Deodata hatte bereits eine großzügig bemessene Portion für den immer hungrigen Riesen beiseite gestellt.
Wenig später schlüpfte Sanchia durch das Tor auf die Fondamenta und eilte in westliche Richtung, wo sie bald auf die bereits formierte Prozession traf.
Die kleine Pergamentrolle knisterte auf ihrer bloßen Haut unter dem Brusttuch.
Bin wieder da, kleine Taube. Habt Ihr morgen Zeit für mich? Dann kommt zur Lichtmess-Andata und trefft mich am Campo vor der Weinschenke.
Nur diese Worte, sonst nichts. Sanchia fuhr mit der Hand unter ihren Umhang und berührte das Papier. Er hatte ähnliche Empfindungen wie sie, sonst hätte er nicht auf dieses rasche Treffen gedrungen. Endlich würde sie ihn wiedersehen!
Das Vesperläuten begann; aus allen Richtungen der Stadt hallten die Glocken und begleiteten die Prozession, die von Süden her über die Salizada zur Kirche führte.
Die Reihenfolge der Magistrate folgte einem strengen Zeremoniell, das Eleonora ihr gestern vor dem Einschlafen erläutert hatte. Standarten- und Schildträger, Pfeifenbläser und Trompeter, Kanoniker und Gastaldi, Sekretäre und Unterkanzler, Kapellan und Großkanzler schritten mit großem Pomp dem Dogen voraus, genau wie Eleonora es beschrieben hatte. Der Doge selbst nahm seinen Platz in der Mitte der Prozession ein, gewandet in einen prachtvollen, golddurchwirkten Brokatmantel. Dazu trug er die juwelengeschmückte, wie ein Horn vom Hinterkopf aufstrebende Dogenkappe und darüber die Zoia , die Dogenkrone. Er ging mit schleppenden Schritten und gesenktem Kopf, als könne er die Last der Verantwortung kaum tragen.
Ihm folgten weitere Männer in Prunkgewändern, von denen einer einen goldenen Schirm und ein anderer ein Schwert trug, Insignien, die Reichtum und Macht des Dogen symbolisierten. Gesandte, Prokuratoren, die Häupter des großen Strafgerichts, Senatoren, Advokaten, Zensoren, die Mitglieder des Rats der Zehn und schließlich die Vertreter
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