Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
als Sanchia die Äbtissin untersuchte. Die Blutungen hatten sich auf ein normales Maß vermindert, es gab keinerlei Anzeichen für Entzündungen. Hautfarbe und Temperatur waren normal, der Puls kräftig. Die Augen waren trüber als üblich, doch das lag nicht an der Fehlgeburt, sondern daran, dass die Äbtissin ganz offensichtlich eine Menge Wein zu sich genommen hatte.
»Ihr müsst einige Tage im Bett bleiben«, sagte Sanchia. »Wascht Euch mit Essigwasser in dieser Zeit, und trinkt täglich besser von dem Kräutersud statt so viel Wein. In einer Woche solltet Ihr wieder gesund sein.«
»Wenn du es sagst.« Die Stimme der Äbtissin klang verwaschen. Mit einem leisen Rülpsen streckte sie sich, griff unter das Bett und zog einen Krug hervor, aus dem sie einen großen Schluck nahm. »Ich helfe mit Rotwein nach. Du ahnst nicht, was ein guter Tropfen ausrichtet.«
»Wenn Ihr meint«, sagte Sanchia reserviert.
Annunziata musterte sie schweigend. Schließlich meinte sie gedehnt: »Und was ist mir dir, mein Kind?«
»Was meint Ihr? Ob ich trinke?«
»Nicht doch. Dazu bist du zu jung. Wie alt bist du? Fünfzehn? Sechzehn? Und schon so über alle Maßen erwachsen und vernünftig. Meine Schwester hatte vor ihrem Tod verfügt, dass du regelmäßig zu Simon gehst, um die Krankenpflege zu erlernen und auch, dass du die Ausbildung zur Hebamme beendest. Ich habe mich daran gehalten, und es war mein Glück. Wenn man es als Glück betrachtet, ein Kind tot zu gebären und weiterzuleben.« Sie trank abermals von dem Wein. Ein Teil davon floss von ihren Lippen über ihr Kinn und den Hals und befleckte den Ausschnitt ihres Leinenhemdes. »Ist das nicht in Wahrheit alles andere als ein Glück? Ist es nicht furchtbar traurig?«
»Macht Euch nicht zu viele Gedanken. Es wird alles wieder gut.«
»Ich muss nur daran glauben, was? War es nicht genau das, was du zu meiner Schwester gesagt hast, damals, als sie starb? Alles wird gut, wenn man daran glaubt? Den Teufel wird es! Glaube, und du wirst verrecken, das ist die einzige Wahrheit, die wir in diesen Mauern je gelernt haben!«
Sanchia wollte sich zur Seite wenden, um den Raum zu verlassen, doch die Äbtissin streckte mit überraschender Schnelligkeit die Hand aus und hielt sie am Arm fest. »Es tut mir leid.«
»Schon gut.« Sanchia konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vor Wut zitterte.
»Sieh an. Keine Tränen. Kein weinerliches Gesicht. Bist du nicht vielleicht zu hart geworden durch all die vielen Kranken und Toten?« Annunziatas Stimme wurde herrisch. »Sag mir, weinst du je um die Menschen, die du nicht retten kannst?«
»Ich weiß nicht …«
»Sollten Mädchen in deinem Alter nicht noch häufig weinen?« Plötzlich war Annunziata nicht mehr anzumerken, dass sie getrunken hatte. Ihr Tonfall war scharf. »Wann hast du die letzten Tränen vergossen?«
»Ich … weiß nicht.« Sanchia lauschte ihren eigenen Worten nach und erkannte verstört, dass das nicht stimmte. Sie wusste es noch sehr genau. Vor vielen Jahren, als ein winziges Kätzchen gestorben war, in der Nachbarschaft von Piero, dem Glasbläser. Davor hatte sie häufig geweint, so wie alle Kinder. Aber nie mehr seit jener einen Nacht auf Murano.
Annunziata fasste es in Worte. »Du hast nie geweint, seit du hier bist. Nicht in der Zeit nach deiner Ankunft, nicht nach dem Tod meiner Schwester. An der du, wie ich weiß, fast so sehr gehangen hast wie ich. Du hast nicht geweint, als deine Zimmergenossin mit dem Tod rang, und ebenso wenig in jener Nacht, als der Plünderer dich aufs Dach hinausgejagt hat. Nicht einmal, als letzten Monat euer kleiner Hund gestorben ist, in den das ganze Kloster so vernarrt war.«
»Hector war Eleonoras Hund, und er war schon ziemlich alt. Außerdem hat sie noch Herkules.«
»Wünschst du dir manchmal, weinen zu können, oder machst du dir keine Gedanken darüber, weil es dir nicht fehlt? Hat all dieses Leid der Kranken und Sterbenden dich stumpf gemacht für dein eigenes Leid?«
Sanchia blieb stumm. Eine dunkle Leere hatte sich ihrer bemächtigt, die sie von innen her auszuhöhlen schien. Der Schmerz über Hectors Tod wühlte immer noch wie mit Klauen in ihren Eingeweiden, und doch hatte sie keine Träne vergossen. Der Tod jedes Kindes ließ sie in tagelanger stummer Trauer zurück, und doch hatte sie deswegen niemals geweint.
Sie konnte es nicht.
Sie tastete nach ihrem Glücksbringer, doch anders als sonst entfaltete das Metall in ihrer geschlossenen Hand keine tröstliche
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