Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Buchdrucks war die Anzahl der verfügbaren Bücher sprunghaft gestiegen, sehr zur Freude der belesenen Nonnen von San Lorenzo. Gleichzeitig waren die Anschaffungskosten durch die Möglichkeit der massenhaften Vervielfältigung auf erfreuliche Weise gesunken. Im Laufe weniger Monate schien es plötzlich mehr neue Bücher zu geben als in all den Jahren davor zusammengenommen, und mit einem Mal erschienen nicht nur Bildungstraktate und theologische Abhandlungen im Bestand der Klosterbibliothek, sondern auch Texte, die allein der Unterhaltung des Lesenden dienten.
Sanchia verschlang Boccaccios Decamerone mit ebensolcher Gier wie Dantes Divina Commèdia , und beide Bücher erfüllten sie mit einer inneren Rastlosigkeit, die sie nicht nur frühmorgens, sondern in den ersten Wochen des neuen Jahres auch an den Abenden aufs Dach des Refektoriums hinaufsteigen und vom Rand der Altana aus in die Ferne starren ließ. Girolamo schaute von seinem Posten am Haupttor zu ihr hoch und gab ihr mit Zeichen zu verstehen, dass sie lieber mit den anderen Nonnen Karneval feiern sollte. Doch ihr war nicht nach Feiern zumute, nicht, solange sie nicht wusste, was mit Lorenzo los war.
Dann endlich, am ersten Februartag des Jahres 1491, dem Vorabend von Mariä Lichtmess, kehrten die weißen Tauben in den Schlag zurück.
Sanchia saß in der Klosterküche wie auf heißen Kohlen, während Eleonora summend die Zutaten für einen Mandelkuchen zusammensuchte.
Sie flitzte zwischen den Küchenmägden hin und her und sammelte hier ein paar Eier, dort ein Maß Mehl und an anderer Stelle einen Brocken Marzipan ein, um alles auf dem großen Tisch in der Nähe des Backofens bereitzulegen. In der Küche war es heiß wie immer. Alle drei Kamine waren befeuert, und überall kochten, buken oder schmorten Gerichte unter Deodatas missmutiger Oberaufsicht vor sich hin. Missmutig deshalb, weil Deodata an Zahnschmerzen litt und weil Sanchia sich standhaft weigerte, ihr den schmerzenden Zahn zu ziehen. Zahnextraktionen und Amputationen fielen nicht in ihr Metier. Nicht, dass sie es nicht einmal hätte versuchen wollen, aber ihr fehlte es dafür schlicht an einer entscheidenden Qualifikation: an Körperkraft.
»Der Kuchen soll der beste werden, den ich je gebacken habe«, sagte Eleonora.
»Wer soll ihn denn essen?«
»Na, wir«, sagte Eleonora. Ihre Stimme klang eine Spur zu gleichmütig, und Sanchia fiel mit einem Mal wieder ein, dass sie Besuch erwarteten.
»Meine Güte, Pasquale kommt morgen«, sagte sie mit schlechtem Gewissen. »Ich hab gar nicht mehr dran gedacht.«
Sie hätte schwören können, dass Eleonoras Wangen sich noch einen Hauch röter färbten, als sie ohnehin schon waren. Daher wehte also der Wind. Jemand von außerhalb konnte ihre Kochkünste bewundern, und dem fieberte sie nun entgegen. Hier wussten ja schon alle, wie gut ihr Essen schmeckte, es fiel kaum noch jemandem auf.
Pasquale hatte beim letzten Mal versprochen, bis Lichtmess vorbeizukommen. Das war am Stefanitag gewesen, und da er seither nicht erschienen war, würde er zwangsläufig morgen kommen. Er hatte sich bis jetzt immer an seine Besuchsversprechen gehalten, aber auch keinen Deut mehr.
»Zu dumm, dass er morgen kommt, denn ich hatte vor, auf die Prozession zu gehen«, sagte Sanchia.
Eleonora runzelte die Stirn. »Was für eine Prozession?«
»Die Andata a Santa Maria Formosa.«
»Was ist damit?«
»Nun, ich würde da gerne hingehen und zuschauen. Ich war noch nie bei einer Dogenprozession.«
»Es gibt das ganze Jahr über welche, und die meisten sind schöner als die zu Lichtmess. Ich habe schon alle gesehen und kann es beurteilen. Am schönsten ist die Sensa an Himmelfahrt, da fährt der Doge mit dem Bucintoro hinaus und feiert die Vermählung mit dem Meer.«
»Bis Himmelfahrt dauert es noch eine Weile.«
Eleonora dachte kurz nach, dann wandelte sich ihre Skepsis in Begeisterung. »Wir könnten alle zusammen den Kuchen essen und hinterher zur Prozession gehen. Ich könnte meinen neuen Umhang anziehen!«
Der neue Umhang stammte wie die übrige Luxuskleidung von ihrer Tante, doch diesmal hatte Sanchia ihr verboten, das Geschenk in den Ofen zu stecken. Eleonora hatte erleichtert gemeint, es sei in der Tat ein gutes Stück, und verbrennen könne sie es ja auch noch im nächsten Jahr, wenn sie wieder etwas Neues bekäme.
Eleonora, deren Laune wenn irgend möglich bei der Aussicht, ihren neuen Umhang einer breiten Öffentlichkeit vorzuführen, noch um einiges
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