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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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auch nicht vertrauenswürdiger wirken.
    »Ich stehle nicht mehr!«, greinte der Alte, sich mit der ihm noch verbliebenen Hand am Gürtel des Flößers festklammernd.
    Sanchia hatte den vagen Eindruck, dass er möglicherweise nicht ganz die Wahrheit sagte, doch im nächsten Moment war er bereits auf einem der Kohlesäcke zusammengesunken und hielt sich jammernd das verletzte Bein. Der Kohleschiffer ergriff unter groben Verwünschungen das Ruder und legte ab.
    »Ihr seid in der Heilkunst bewandert«, stellte der Deutsche fest, während er zusah, wie sich das Boot seinen Weg zwischen den Gondeln hindurch über den Canalezzo bahnte und um die nächste Biegung hinter dem Ponte Rialto verschwand.
    »Ein wenig. Habt Ihr die Summa gelesen?«
    Der Deutsche war verblüfft. »Ihr kennt sie?« Sich vergewissernd, fügte er mit leiser Skepsis hinzu: »Die Summa de Arithmetica, Geometria, Proportioni e Proportionalità ? Luca Paciolis meisterliche mathematische Abhandlung, die eben erst herausgekommen ist?«
    »Wir haben ein Exemplar im Kloster. Ich habe sie gelesen, wenn Ihr das meint. Nicht alles verstanden, aber daran arbeite ich noch.«
    »Ihr seid eine Frau«, stieß der Deutsche hervor.
    »Auch Frauen können denken«, gab Sanchia leicht gereizt zurück.
    Er wurde rot. »O bitte, es tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber eine Frau wie Ihr, so jung und so …« Er stockte, und seine Wangen tönten sich noch dunkler.
    Sanchia war nicht beeindruckt. »Muss man alt und hässlich sein, um einen klaren Verstand zu haben? Seht doch Euch an. Oder Leonardo. Ich begegnete ihm nie von Angesicht zu Angesicht, doch es heißt, er sei ein sehr gut aussehender Mann.«
    »So sagt man wirklich«, schwärmte der Deutsche. »Er ist nicht mehr ganz jung, aber sein Antlitz soll immer noch von vollendeter Schönheit sein.« Im nächsten Moment ging ihm auf, dass man ihm diese Worte womöglich falsch auslegen könnte. »Nicht, dass ich … ich bin verbunden«, fügte er hastig hinzu. Er wählte ein vulgärlateinisches Wort, das ebenso gut verheiratet wie verlobt oder auch etwas Derberes bedeuten konnte. Seine nächsten Worte zerstreuten indessen jeden Zweifel, was er meinte.
    »Sie heißt Agnes und ist meine Frau. Sie ist wundervoll!«
    »Gratuliere«, sagte Sanchia lächelnd.
    »Nun ja, wir streiten oft. Mein Vater hat sie mir zur Braut erwählt.« Eilig fuhr er fort: »Aber wir lieben uns sehr. Und Ihr?«
    »Ob ich vermählt bin?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich lebe in einem Kloster.«
    »Also eine Braut Christi.« Zweifelnd musterte er ihren weltlichen Aufzug.
    »Nicht einmal das. Ich bin ein … Zwischending. Keine Nonne, keine Conversa. Früher war ich eine Educanda, jetzt bin ich dafür zu alt.«
    »Ihr seid nicht alt!«, rief der Deutsche aus.
    Sie lächelte. »Für manches ist eine Frau mit neunzehn durchaus zu alt.«
    Er betrachtete sie hingerissen. »Euer Gesicht, so wette ich, wäre ein Paradebeispiel.«
    »Beispiel wofür?«
    »Das ist der Grund, warum ich mit Messèr Pacioli sprechen will. Er stellt neue Forschungen an, die denen von Leonardo ähneln. Die beiden sind befreundet, müsst Ihr wissen. Pacioli beschäftigt sich mit der Proportionenlehre und den Schriften des Vitruv. Er plant ein Buch über die Messbarkeit von Proportionen, und Leonardo will dazu Zeichnungen anfertigen.« Verlegen fuhr er fort: »Ich selbst stelle ebenfalls Untersuchungen zur Geometrie der Proportionen an, wenn ich das in aller Bescheidenheit hinzufügen darf. Vor allem in Verbindung mit der Komponente der Ästhetik.«
    Sanchia runzelte die Stirn, nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Ihr meint, Ästhetik sei messbar?«
    »Mit einer unglaublich genialen, unglaublich einfachen Gleichung!«, bestätigte der junge Mann triumphierend.
    »Ihr scherzt.«
    »Glaubt es mir. Es ist die reine Wahrheit. Schon Euklid hat es in seinen Untersuchungen der fünf platonischen Körper beschrieben, es muss nur noch in Zahlen ausgedrückt werden.«
    Sanchia starrte zu dem Balkon hinauf. »Wohnt er hier, oder wird er später noch herunterkommen?«
    »Er wohnt bei Bekannten im Palazzo Barbaro bei Santo Stefano und wird daher irgendwann dieses Haus hier verlassen müssen.« Der Deutsche verneigte sich schüchtern. »Es wäre mir eine große Ehre, wenn Ihr mit mir zusammen eine Weile warten möchtet.«
    »Vorausgesetzt, ich kann bei dem nachfolgenden Gespräch zugegen sein.«
    »Nichts anderes wollte ich damit zum Ausdruck bringen,

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